Nachts um vier frierend und froh in Ruinen

Saarbrücken · Das deutsch-französische Theaterfestival feiert von 1. bis 10. Juni Geburtstag. Vier langjährige Zuschauerinnen erzählen, warum sie die Perspectives lieben.

 Geballte Perspectives-Kompetenz: Elisabeth Sossong, Vera Kalb, Margrit Maschur und Andrea Müller (von links) kennen das Festival seit Jahrzehnten. Foto: Iris Maurer

Geballte Perspectives-Kompetenz: Elisabeth Sossong, Vera Kalb, Margrit Maschur und Andrea Müller (von links) kennen das Festival seit Jahrzehnten. Foto: Iris Maurer

Foto: Iris Maurer

"Gott, was haben wir gefroren". "Es war ja immer kalt". "Und nie fing was pünktlich an". "Heute wäre das alles gar nicht mehr möglich". . .

Es dauert fünf Minuten, dann haben sie sich warm geredet. Vier Frauen, vier langjährige Perspectives-Fans. Ein Treffen im Saarbrücker Café Odeon. An was erinnern sie sich, was waren ihre allerersten Höhepunkte?

"Diese Gestalten damals an der Ludwigskirche. . . ", sagt Andrea Müller. ". . . aah, ja: Urban Sax", fällt Vera Kalb der Name ein. "Was die gemacht haben, wäre ja heute noch extrem", meint Andrea Müller, "aber damals war das für mich noch gar nicht denkbar".

Auch Margit Maschur und Elisabeth Sossong erinnern sich jetzt an die weiß gekleideten Saxofonisten, die auf dem Ludwigsplatz von Häuserwänden und Laternen spielten. Damals, in den allerersten Jahren der Perspectives.

Alle vier Frauen kennen das Festival seit Jahrzehnten. Die Journalistin Elisabeth Sossong und die Theaterpädagogin Vera Kalb sind sogar von den allerersten Anfängen dabei.

Wild und schräg war das Festival in den ersten Jahren unter seinem Gründer Jochen Zoerner-Erb. "Erinnert ihr euch an Bartabas?", fragt Vera Kalb in die Runde. Ohh, ja, bei diesem Namen geht ein Erinnerungs-Raunen durch die kleine Truppe.

Mit dem legendären Cirque Alligre und später mit Zingaro war der Künstler mit seinem Pferdetheater schon ganz früh bei den Perspectives. "Das war so Blader-Runner-mäßig", sagt Andrea Müller. Mit Pferden ritten Bartabas und seine Mitspieler damals in die Moderne Galerie, "der Hausmeister hat einen Herzkasper gekriegt", lacht Vera Kalb.

Es sind die anarchischen, frühen Jahre des Festivals, die den vier Frauen im Gespräch sofort präsent sind. "Es kam schon mal vor, dass das Festival bis sieben Uhr morgens dauerte - und danach ging man arbeiten", schwärmt Margit Maschur.

Und es dauerte auch oft ewig, bis es endlich losging. "Jochen Zoerner-Erb kam dann immer raus und sagte: Die proben noch", lacht Elisabeth Sossong. Was der damalige Staatstheater-Dramaturg mit seinem Festival anstiftete war ein enormer Kontrast zu dem, was man vom braven städtischen deutschen Theater kannte.

"Ich weiß noch, wie im ersten Jahr, als das Ganze noch auf der Kammerbühne des Staatstheaters stattfand, die Schauspieler aus dem Haus mit etwas angewiderter Mine vorbeischlichen - wie akademische Kunstmaler", lacht Elisabeth Sossong.

Und sie fragt sich: "Wer würde wohl heute um vier Uhr in die eiskalte Kettenfabrik-Ruine fahren und sich die Lebensgeschichte eines Bäckers anhören? - vor allem, wenn es dann doch erst um halb sechs anfängt?"

Das Frieren und die Verspätungen und dazu die außergewöhnlichen Spielorte, die spektakulären Straßentheater-Aktionen und natürlich die seinerzeit in ihrer unerhörten Andersartigkeit noch völlig neuen französischen Zirkusse: Da haben alle vier Frauen starke Erinnerungen.

"Der Cirque O", schwärmt Vera Kalb, "die hatten nur so Säckchen um ihre edlen Teile, und es war Johann dabei, der an seinem langen Zopf schwebte". Wiedererkennen, Wiedererinnern.

Immer wieder wirft eine der Frauen einen Namen, ein Bild in die Runde: "Diese Jagd nach der weißen Braut durch die Stadt". "Le Bal war so großartig". "Oder als alle mit Autos ins Parkhaus gefahren wurden". "Le Bouchon auf den Spicherer Höhen war toll". "Maguy Marin, und Angelin Perljocaj war ja noch ganz jung". "Der Ubu Roi mit Gemüse gespielt". "Lola Montez im Theater im Stiefel fand ich so beeindruckend". "Das Spektakel am Flughafen Ensheim". "Der Cirque Archaos mit den Kettensägen". "Das Spektakel im alten Bunker und die Veranstaltungen im leeren Stadtbad". Es geht munter hin und her.

Und die Damen stellen immer wieder überrascht fest, wie viel sie auch vergessen haben. "Also ich habe ja im Laufe der Jahre bestimmt 250 Aufführungen gesehen", sagt Elisabeth Sossong. "Und man sieht ja nicht nur diese eine Woche im Jahr Theater", sagt Andrea Müller. Da kommt in so einem Kulturleben ganz schön was zusammen. Und manche Erinnerung geht verloren.

Aber wie das bei Erinnerungen manchmal so ist: Die frühesten sind am stärksten. Bei allen vier langjährigen Festivalfans sind die Eindrücke der ersten von 40 Jahren am stärksten - "weil damals alles so unerhört neu war", sagt Andrea Müller.

Aber, da sind sich alle vier einig: Die Perspectives wie sie heute sind, das Festival, dem Sylvie Hamard seit zehn Jahren ihren Stempel aufdrückt, die lieben sie auch. Auch weil Hamard mit Saarbrücken verbunden ist und das ganze Jahr für die Perspectives da ist.

Nicht wie so mancher Festivalleiter, der als Eintagsfliege anflatterte, große Spesen produzierte und wenig Eindruck hinterließ. "Sylvie Hamard ist so jemand, die geht als Erste los, wenn irgendwo ein Stuhl fehlt", beschreibt es Andrea Müller.

 Seit 1992 unvergessen: Johann Le Guillerm vom „Cirque O“. Foto: Merkel

Seit 1992 unvergessen: Johann Le Guillerm vom „Cirque O“. Foto: Merkel

Foto: Merkel
 1985 spielten die bizarren Musiker von Urban Sax auf dem Ludwigsplatz.

1985 spielten die bizarren Musiker von Urban Sax auf dem Ludwigsplatz.

 1982 zog eine Braut nebst Publikum durch die Innenstadt. Fotos: Julius C. Schmidt

1982 zog eine Braut nebst Publikum durch die Innenstadt. Fotos: Julius C. Schmidt

Worauf sie sich beim kommenden Festival am meisten freuen? "Kiss an Cry", sagt Margit Maschur, "und Falk Richter". "Ich freu mich auf den Marthaler", meint Andrea Müller. Und Elisabeth Sossong will sich in jedem Fall einen der Zirkusse ansehen. "Ich gehe überall hin", beschließt Vera Kalb.

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