Menschen wie du und ich

St Wendel · Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet der neue Band „Die Nazis aus der Nähe“, wie der braune Terror im Nordsaarland Mitläufer und Mittäter fand. Eine Untersuchung, die freilich deutlich über das St. Wendeler Land hinaus weist und exemplarisch den Aufstieg der Nationalsozialisten in der Provinz wie auch den Widerstand gegen sie zeigt.

 Der Maler Adolf Bender, der viele Jahre in St. Wendel lebte, war ein entschiedener Gegner Hitlers. Deshalb war er unter anderem im KZ Börgermoor inhaftiert. Dessen Insassen nannten sich selbst „Moorsoldaten“. Seine dortigen Erfahrungen verarbeitete Bender in Bildern wie diesem, „Prügelstrafe“ betitelt, das sich auch im Band „Die Nazis aus der Nähe“ findet. Foto: Adolf-Bender-Zentrum

Der Maler Adolf Bender, der viele Jahre in St. Wendel lebte, war ein entschiedener Gegner Hitlers. Deshalb war er unter anderem im KZ Börgermoor inhaftiert. Dessen Insassen nannten sich selbst „Moorsoldaten“. Seine dortigen Erfahrungen verarbeitete Bender in Bildern wie diesem, „Prügelstrafe“ betitelt, das sich auch im Band „Die Nazis aus der Nähe“ findet. Foto: Adolf-Bender-Zentrum

Foto: Adolf-Bender-Zentrum

Vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, gerade mal 25 Jahre nach Ausbruch des ersten. Bis heute ist die Frage aller Fragen, wie es zum Desaster des "Dritten Reiches" kommen konnte. Wie war es möglich, dass eine Horde dumpfbackiger Nazis ein ganzes Volk erst in ihren Bann und dann auch ins Verderben zog? Warum haben am Ende, von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, alle mitgemacht?

Den Versuch einer Antwort gibt ein neues Buch aus dem Saarland, dessen Titel ein Schlüssel zum Verständnis des Unverständlichen ist: "Die Nazis aus der Nähe". Tatsächlich versteht man das Phänomen besser, wenn man nah heranzoomt. Die direkte, lokale Betrachtung gibt exemplarisch Auskunft darüber, wie der Keim des Bösen im Mikrokosmos der Dörfer gedeihen konnte. 25 Autoren aus dem Saarland, darunter Journalisten, Historiker und Studienräte, haben sich dazu auf "Spurensuche im St. Wendeler Land" gemacht und Hitlers Helfer aus der Nähe betrachtet.

Die Autoren des fast 500 Seiten starken Werks aus der "edition schaumberg" haben nichts ausgelassen: Wie sich der nationalsozialistische Virus breitmachte, ganze Kreise befiel und fiebrige Aktivitäten auslöste. Wie die Strukturen in Dörfern und Städten so verändert wurden, dass die Bürger gleichsam "automatisch" zu Mitläufern wurden. Wie die jüdischen Mitbürger erst schikaniert und dann vertrieben oder deportiert wurden. Wie sich wenige mutige Dissidenten (vergeblich) gegen das Unheil stemmten.

Dass die Lage fatal war, wird schon in der Einleitung des Buches deutlich, als das Kriegskind "Felix" erzählt, wie es zur Hitlerjugend kommen sollte. Das liest sich dann so: "Ja, so einfach ist das nicht", sagte der Großvater, "da musst du parieren. Da kannst du nicht mehr machen, was du willst." "Was muss ich denn da machen?", fragte Felix. "Ei", sagte der Großvater, "da musst du machen, was der Fähnleinführer sagt." "Und wenn ich nicht hingehe?", fragte Felix. "Das hat keinen Wert", sagte der Großvater. "Die haben Listen mit den Namen. Da müssen alle hin."

Das verdienstvolle Buch der Herausgeber Klaus Brill, Bernhard Planz, Inge Plettenberg und Klaus Zimmer ist auch deshalb für alle Saarländer (und andere) von Interesse, weil sich die Spurensuche zwar im St. Wendeler Land konzentriert, sich aber nicht darauf beschränkt. Vor allem aber, weil die Region im östlichen Saarland pars pro toto steht, also beispielhaft für das Ganze. So wie sich in Marpingen oder Oberthal eigentlich kreuzbrave Katholiken der NSDAP annäherten, Blockwarte wurden und in die Partei eintraten, so taten es unzählige Menschen auch in Saarbrücken, Frankfurt oder Leipzig. Die Wucht des Buches ergibt sich aus dem Umstand, dass es die dramatische Entwicklung des Nationalsozialismus in allgemeiner Form beschreibt, aber auch ganz konkret auf die Vorgänge in den Dörfern und Familien eingeht. So erfahren wir, wie im Haus des frommen Bergmanns Johann Scheid in Oberthal die bange Frage gestellt wurde, "wohin das alles wohl führen wird?" Und wie ausgerechnet der Bischof von Trier diese Bedenken zerstreute, als er SS und SA als Ordnungsdienst für die Heilig-Rock-Wallfahrt 1933 engagierte. In dem Artikel "Im Taumel der Begeisterung" steht die Antwort auf die Frage, die sich viele Katholiken damals stellten: "Was soll denn so schlimm sein an den Nationalsozialisten, wenn selbst der Bischof anerkennende Worte für sie findet?"

Nach der Lektüre des Buches, das ebenso spannend wie beklemmend auch das Schicksal eines Antifaschisten aus Niederlinxweiler beschreibt ("Hubert im Wunderland"), weiß der Leser ziemlich genau, warum am Ende diabolischer Prozesse der Verführung und Propaganda, der Einschüchterung und der nackten Gewalt ein ganzes Volk "Heil Hitler!" schrie und in Europa das Inferno losbrach. Dabei ist die furchtbarste Erkenntnis des Buches zugleich die banalste: Aus der Nähe betrachtet sehen die Nazis aus wie ganz normale Menschen - so wie du und ich.

"Die Nazis aus der Nähe": herausgegeben von Klaus Brill, Bernhard Planz, Inge Plettenberg und Klaus Zimmer, edition schaumberg, 480 Seiten, 39,90 Euro.

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