Jetzt kommt das Wirtschaftswunder

Saarbrücken · Bereits mit dem ersten Bildband vor zweieinhalb Jahren erwies es sich, dass mit dem Nachlass des Saarbrücker Fotografen Paul Hartmann ein Erinnerungsschatz gehoben wurde. Nun folgt der zweite Streich: „Wirtschaftswunder“. Am Freitag wird das Buch in Saarlouis vorgestellt.

 Schick war die Zeit: Eigentlich müsste man sie genauso wieder nachbauen, die „Europa-Bar“ im Haus der Saarbrücker Scala-Kinos. 1954 öffnete sie, Stahlrohrmöbel und Globus versprachen Weltläufigkeit, hier traf sich die Jeunesse dorée. Bodenständig ließ dagegen die St. Ingberter Becker-Brauerei fürs Werbefoto feiern: Paul Hartmann begleitete 1952 diesen „Herrentagsausflug“ nach Kleinblittersdorf. Fotos: Landesarchiv Saarbrücken, Nachlass Paul Hartmann © Gabi Hartmann

Schick war die Zeit: Eigentlich müsste man sie genauso wieder nachbauen, die „Europa-Bar“ im Haus der Saarbrücker Scala-Kinos. 1954 öffnete sie, Stahlrohrmöbel und Globus versprachen Weltläufigkeit, hier traf sich die Jeunesse dorée. Bodenständig ließ dagegen die St. Ingberter Becker-Brauerei fürs Werbefoto feiern: Paul Hartmann begleitete 1952 diesen „Herrentagsausflug“ nach Kleinblittersdorf. Fotos: Landesarchiv Saarbrücken, Nachlass Paul Hartmann © Gabi Hartmann

Man stelle sich vor, man fände 60 000 Negative auf dem Speicher; Digital Natives muss man wohl erst noch erklären, Negative sind die Urahnen von Bilddateien. Und diese Negative sind keine Schnappschüsse, sondern Nachlass eines Menschen, dessen Metier das Fotografieren war, der als Saarbrücker Presse- und Industriefotograf zum Chronisten des Landes wurde. Den Geschwistern Gabi und Norbert Hartmann fiel diese prall gefüllte Zeitkapsel auf dem Dachboden ihres Elternhauses in die Hände, das Schaffen ihres Vaters Paul Hartmann, der 1971 gestorben ist.

Die Hartmanns taten das einzig Richtige: Sie übergaben den Erinnerungsschatz dem saarländischen Landesarchiv zur Aufarbeitung - bemühten sich aber zugleich, dass die Aufnahmen ihres Vaters wieder unter die Leute kamen. Vor zweieinhalb Jahren entstand so schon der Band "Aufbruch" - mit Hartmanns Fotografien der lebensgierigen Jahre just nach dem Krieg. Und man konnte bloß hoffen, dass dies kein Solitär bleibt. Nun folgt Band zwei: "Wirtschaftswunder ". Die Unterzeile tönt etwas hölzern: "Das Saarland in der Warenwelt (1949-1964)". Korrekt natürlich, aber sie lässt nicht annähernd ahnen, welches Panorama und Panoptikum zugleich da auf über 200 Seiten aufgeblättert wird.

Paul Hartmann hielt etwa nur ein paar Schritte von seinem Atelier entfernt fest, was in den lustvoll arrangierten Vitrinen des alten Saarbrücker "PeKa" angepriesen wurde, dem Passagekaufhaus, heute zu Galeria Kaufhof uniformiert. Da wurde in den Boom-Jahren mal Weltraumeroberung, mal französische Revolution dekoriert - wie fad sind dagegen heutige Auslagen. Der Fotograf rückte auch ureigene Saar-Marken wie Becolin-Farben und Sultan-Zigaretten ins beste Licht, protokollierte mit der Kamera die Straßen, auf denen Citroëns und Renaults Vorfahrt hatten. Er fotografierte auch futuristische Architektur, selbstbewusst aufragende Firmenzentralen und Einkaufspaläste wie das Kaufhaus Walter in der Saarbrücker Bahnhofstraße.

Hartmann glückten zudem dank seiner Kontakte als gefragter "Lichtzeichner" zu Unternehmern an der Saar auch bemerkenswerte Innenansichten. Vom Salon der Gräfin de Bernis in Wörschweiler, wo so heftig gepafft wurde wie einst in Höfers "Aktuellem Frühschoppen" bis hin zum Fabrikantenschlafgemach mit akkurat drapierter Tagesdecke und Raffaels Madonna, die über die Sittsamkeit wacht.

Klar gibt es auch die Bilder der nach den Hungerjahren brechend vollen Regale, bei denen man mit Wolfgang Neuss singen möchte: "Jetzt kommt das Wirtschaftswunder , der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder". Wobei Paul Hartmann mit der Kamera auch mal Zechern entlarvend ins Gesicht blickte. Dass nämlich mit all dem bunten Wohlstand die finstere Nazizeit davor rasch übertüncht wurde, der dumpfe Geist aber vielfach anhielt, ist die Kehrseite dieser Aufnahmen einer schönen neuen Welt.

Oft macht das Staunen, ist erheiternd, beeindruckend, was man zu sehen bekommt. Auch weil hier das Wirtschaftswunder schon Fahrt aufnahm, als in der Bundesrepublik der Motor noch nicht mal gestartet war. Der früher keimende Wohlstand hatte mit dem Sonderweg des Landes zu tun, der Nähe zu Frankreich. Paul Burgard, Historiker im Landesarchiv, ordnet die rund 200 Bilder so exzellent wie pointiert ein. So ist auch der neue Hartmann-Band nicht bloß ein Blätterbuch mit Guck-mal-da-Effekt, sondern bemerkenswerter Spiegel einer Zeit.

Buchvorstellung: 4. November, 19.30 Uhr, Buchhandlung Bock & Seip in Saarlouis.

 Paul Hartmann mit einer Rolleiflex, typisches Arbeitsinstrument vieler Pressefotografen.

Paul Hartmann mit einer Rolleiflex, typisches Arbeitsinstrument vieler Pressefotografen.

 In den 50ern war der Glaube ans Automobil noch ungebrochen. Dieser Schalter der Saarbrücker Stadtsparkasse öffnete 1957; man konnte seine Bankgeschäfte erledigen, ohne auszusteigen.

In den 50ern war der Glaube ans Automobil noch ungebrochen. Dieser Schalter der Saarbrücker Stadtsparkasse öffnete 1957; man konnte seine Bankgeschäfte erledigen, ohne auszusteigen.

Paul Burgard/Gabi Hartmann (Hg.): "Wirtschaftswunder ", 216 Seiten, 205 SW-Fotos, Geistkirch Verlag, 37,80 Euro.

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