„Geschichten geben Leben Glanz“

Im April ist Helge Timmerbergs neues Buch „Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich“ erschienen. Am 14. Mai liest er in Losheim daraus vor. SZ-Redaktionsmitglied Elsa Middeke hat ihn gefragt, wozu wir heute noch Märchen brauchen, wo man sie finden kann, und an welchen Ort man reisen sollte, wenn man Liebeskummer hat.

Herr Timmerberg, das Märchen "Die Perlenkarawane" und seine Erzählerin Elsa Sophia von Kamphoevener haben Sie über 20 Jahre lang nicht losgelassen. Was hat Sie so fasziniert?

Timmerberg: Die Lebensgeschichte dieser Frau, die den Soldaten an der Front im Zweiten Weltkrieg selbst gesammelte orientalische Märchen erzählt hat, hat mich mitgerissen. Außerdem ist Elsas Leben eng verknüpft mit der Geschichte des Orients, durch sie bin ich selbst in den Orient eingetaucht. Am stärksten fasziniert hat mich aber die alte Tradition der Geschichtenerzähler, wie sie an den Feuern der Nomaden Märchen erzählen. Darin sah ich meine Wurzeln - ich bin ja auch ein Geschichtenerzähler. Mein Vater hat Elsa sogar selbst erlebt, als er verwundet im Lazarett lag.

Was haben Sie und Elsa denn noch alles gemeinsam?

Timmerberg: Ich werde ihr immer ähnlicher. Ich mache viele Lesungen, aber mindestens zur Hälfte erzähle ich dabei, statt vorzulesen. Moment, ich muss mir mal eine Zigarette anzünden. . . Wenn das Internet einem irgendwann die Bücher klaut und Journalismus dadurch zur brotlosen Kunst wird, dann bleibt noch das Erzählen - das kann man nicht klauen. Dann erzähle ich eben Geschichten im Austausch für Naturalien. Elsas Liebe für den Orient ist auch so eine Gemeinsamkeit. Wahrscheinlich auch das Vertrauen auf die Intelligenz des Augenblicks. Elsa hat ihr Leben auch nicht durchgeplant, sondern sich von heute auf morgen entschieden.

Sie erzählen, dass jede Frau sich in Sie verliebte, wenn Sie ihr das Märchen von der Perlenkarawane erzählt haben. Lag das an Ihnen oder an der Geschichte?

Timmerberg: (lacht) Gute Frage! Hab ich neulich auch drüber nachgedacht. Ich weiß es nicht genau. Keine von Elsas anderen Geschichten gefällt mir so gut wie dieses Märchen. Es gibt kaum eine Geschichte, die ich so lebendig erzählen kann wie diese. Von einem Auto mit vier Zylindern werde ich dabei zu einem mit fünf Zylindern, als ob sich ein Turbo einschaltet.

Elsa erzählt in Ihrem Buch ein Märchen für einen Teller Suppe. Was ist ein Märchen heute wert?

Timmerberg: Hollywood erzählt auch Märchen, zum Beispiel über Batman. Das kostet dann 18 Euro Kino-Eintritt. Manche Märchen sind unheimlich viel wert. Ich denke, 80 Prozent des Erfolgs liegt darin, wie man andere von sich selbst und seinen Ideen überzeugt. Die Hälfte von dem, was man den anderen erzählt, sind doch auch Märchen. Nur stellt man sie so hin, als wären sie wahr. Auch Politiker und Werbefachleute müssen Geschichten erzählen können. Das ist der Schlüssel zum Erfolg.

"Ein gutes Märchen ist voller Leben, und ein gutes Leben ist voller Märchen", schreiben Sie. Wie leben wir so ein Leben?

Timmerberg: Es kommt darauf an, wie man aufs Leben schaut und ob man darin das Märchenhafte erkennt. Was man plant, ist die eine Sache - doch die Zufälle im Leben, die sind die Märchen. Ich hab mich getraut, Träume zu leben und Dinge zu tun, die meine Familie, meine Freunde oder die Gesellschaft abgelehnt haben. Ich hatte als Kind alle Freiheiten. Daran gewöhnt man sich.

Gehört zu einem märchenhaften Leben nicht vor allem Mut, um seine Träume zu leben?

Timmerberg: Als ich mit 17 Jahren nach Indien aufgebrochen bin, war es weniger Mut, sondern vielmehr komplette Ahnungslosigkeit. Heute bin ich viel vorsichtiger. Meine Abenteuerlust war damals stärker als Angst. Heute würde ich sagen, mutig ist es auch, Langeweile, sein Schicksal oder sich selbst auszuhalten. Ich war eigentlich nie mutig, eher leidenschaftlich besessen. Mögliche Gefahren hat die Leidenschaft weggewischt. Aber auch die Erfahrung, dass es immer gut ausgegangen ist.

Wo finden wir heute noch Märchen?

Timmerberg: In der "Bunten" zum Beispiel. Darin werden ja die ganze Zeit Märchen erzählt. Prinzen und Prinzessinnen sind heute nicht nur der Adel, sondern auch Promis. Und in Hollywood oder im Tatort: Gucken Sie sich mal den echten Polizeialltag an, der läuft ganz anders ab. Die Karawane und die Märchenerzähler sind für mich jedoch die Wurzel aller Medien. Wofür am Lagerfeuer nur eine Stimme, Mimik und Gesten nötig waren, das erzählt Hollywood heute mit großem Aufwand. Natürlich werden so auch ungleich mehr Menschen erreicht.

Wozu brauchen wir unbedingt Märchen, wenn wir heute doch Reisen um die ganze Welt, Internet und Drogen haben?

Timmerberg: Man will mit Märchen ja nicht nur unterhalten, sie haben auch eine Moral. Natürlich brauchen wir heute noch Geschichten. Ein Buch im Zug, im Flieger, oder wenn man nicht schlafen kann - das ist super. Geschichten geben dem normalen Leben einen Glanz. Geschichten sind das Brot der armen Menschheit, die morgens geboren wird, abends stirbt und dazwischen mühsam zu Rande kommen muss.

"Ein Satz, der nicht wie eine Pille wirkt, ist kein guter Satz", schreiben Sie. Wo findet man solche Sätze?

Timmerberg: Es gibt jede Menge. Eine Pille nimmt man, und nach ein paar Minuten entfaltet sie ihre Wirkung: heilend, segensreich, böse, was auch immer. So sind für mich gute Sätze. Sie gehen auf im Gefühl, im Herzen, in der Seele, nehmen Raum ein und beeinflussen mich sehr stark. "Siddharta" von Hermann Hesse, "Der alte Mann und das Meer" von Ernest Hemingway oder auch Texte von Charles Bukowski haben einiges mit mir angestellt. Was mich packt, das steckt im Tonfall, zwischen den Zeilen. Es ist weniger die Handlung eines Buches, sondern seine Sichtweise auf das Leben.

Von einem Rausch zum anderen: Sie schildern auch, dass Sie sich eines Nachts in die Liebe verliebt haben. Ist das nun besser, als einen Menschen zu lieben?

Timmerberg: Natürlich, man ist freier, nicht sofort von einem Menschen abhängig. Wenn der verschwindet, stehen Sie extrem im Regen. Für mich hat es einige Jahre sehr schön funktioniert. Damals kam es aus einem extremen Liebeskummer, wahrscheinlich wollte ich mein Herz so schnell nicht mehr öffnen. Heute bin ich 62 Jahre alt und alles ist nur noch halb so wild. Ich habe seit mehreren Jahren wieder eine Beziehung mit einer Frau - darin bin ich sehr frei, und sie ist es auch. Jeder hat sein eigenes Leben. Es ist eine sehr erwachsene Beziehung. Und ich brauchte sehr lange, um erwachsen zu werden. (lacht)

Wenn ich Liebeskummer hätte und den vergessen wollte - an welchen Ort der Welt sollte ich als Frau fahren?

Timmerberg: Auch wenn man dem schwarzen Monster Liebeskummer, das in der Magengegend wohnt, nicht entfliehen kann: Sie können überall hinfahren, wo man auch als Mann hinfahren kann. Nach Marokko zum Beispiel. Das Licht, die Farben, die Musik, die Marokkaner - das hat mir sehr geholfen.

Zum Thema:

Auf einen BlickDer deutsche Journalist und Autor Helge Timmerberg wurde 1952 in Dorfitter (Hessen) geboren. Als Jugendlicher trampte er von Bielefeld nach Indien und entschloss sich mit 17 Jahren in einem Ashram im Himalaya, Journalist zu werden. Timmerberg volontierte bei der Neuen Westfälischen, arbeitete dort als Lokalredakteur und schreibt Reportagen aus allen Teilen der Welt - unter anderem für "Zeit", "Süddeutsche Zeitung", "Focus" und "Playboy". em

Zum Thema:

GewinnspielDie SZ verlost fünf Buchexemplare und 5 x 2 Tickets zu Helge Timmerbergs Lesung am Mittwoch, 14. Mai, im Rahmen des 3. Literaturfestivals im Saar Schleifen Land um 19 Uhr im Saalbau in Losheim am See. Rufen Sie am heutigen Dienstag, 13. Mai, zwischen 14 Uhr und 14.30 Uhr unter Tel. (0 68 61) 9 39 66 52 an. Karten im Vorverkauf (Eintritt: 15 Euro) gibt's bei der Tourist-Info am See und unter Telefon (0 68 61) 9 36 70. redticketregional.de

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