"Ein Symbol dafür, dass wir mit Auschwitz niemals fertig werden"

St. Johann. In der Johanneskirche sitzen zwei junge Leute vor kleinen Tischen und sprechen in Mikrofone. Sie lesen gleichzeitig aus verschiedenen Büchern vor, so dass man nur Bruchstücke versteht

St. Johann. In der Johanneskirche sitzen zwei junge Leute vor kleinen Tischen und sprechen in Mikrofone. Sie lesen gleichzeitig aus verschiedenen Büchern vor, so dass man nur Bruchstücke versteht. "Es hat jeden geschaudert, doch jedem war klar, dass er das nächste Mal an die Reihe kommen kann", sagt das Mädchen gerade, während der Junge Namen vorträgt und vielstellige Nummern aufzählt.Nach einer Weile stehen sie auf und überlassen ihre Plätze zwei Erwachsenen, die vorher in den Kirchenbänken still zugehört haben. Es ist 16 Uhr, seit 0 Uhr wird in der Saarbrücker Johanneskirche vorgelesen und das noch bis Mitternacht: Namen und Nummern, wie sie die Historikerin Danuta Czech im "Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 - 1945" zusammengetragen hat. Namen der von den Nazis ermordeten Juden, Nummern, mit denen die Mörder über ihre Opfer, ihre Transporte, Torturen akribisch genau Buch führten.

Auch die Namen der aus dem Saarland nach Gurs deportierten Juden und literarische Texte von Autoren wie Paul Celan, Mascha Kaleko und Peter Weiss tragen die Vorleser-Paare vor.

Alle 15 bis 30 Minuten setzen sich neue an den Tisch. "An die hundert Lektoren haben sich beteiligt, angefangen von Universitätsprofessoren bis hin zu Schülern", erzählt Herbert Jochum vom Christlich-Jüdischen Arbeitskreis im Saarland.

Er hat diese ungewöhnliche Veranstaltung zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus mitorganisiert. Seit 15 Jahren macht Jochum das schon, in wechselnden Saar-Städten. Zum zweiten Mal hintereinander macht das Projekt Johanneskirche mit.

"An ein Ereignis so monströser Art kann man doch nicht erinnern mit etwas ästhetisch Schönem, wo man am Ende noch applaudiert", sagt Jochum. Angemessener sei etwas Monströses, das wehtue, verstöre, schon allein durch seine zeitliche Dauer, den Rahmen des üblichen Gedenk-Rituals sprenge.

Das Konzept für die Veranstaltung stammt vom Saarbrücker Musiker Ulrich Voss. "Eine Klangstele für das Hören gegen das Aufhören" hat er sie genannt und sie mit Kompositionen von Luigi Nono und Arvo Pärt versehen.

Über die Form vermittelt sich ihre Botschaft. "Nach 24 Stunden werden wir das Kalendarium erst zur Hälfte gelesen haben - ein Symbol dafür, dass wir mit Auschwitz niemals fertig werden", sagt Jochum. Und wenn sich Musik über die beiden Stimmen lege, sodass die Zuhörer fast gar nichts mehr verstehen können, sei auch das gewollt. "Denn so viel wir auch darüber wissen, so übersteigt der Holocaust doch unser Verständnis."

Am Vormittag seien von den Willi-Graf-Schulen, vom Rotenbühl-Gymnasium und von der Marienschule ganze Schulklassen zum Vorlesen und Zuhören gekommen, sagt Jochum. Jetzt am Nachmittag ist es ruhiger, drei Leute gehen, drei kommen.

"Ich finde diese Idee großartig", sagt Hilmar von Tippelskirch, der um Mitternacht noch einmal zurückkehren will.

Die Wirkung zeige sich vor allem, wenn man mitlese, wie viele zuhören sei gar nicht so entscheidend. In den Texten der Opfer gehe es oft um die Angst, vergessen zu werden, sagt Ingrid von Tippelskirch. Auch sie ist froh, sich beteiligt zu haben.

"Wenn man diese Namen vorliest, dann sind sie präsent, und wenn es nur für einen Augenblick ist". sbu

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