Ein Gläschen Rotwein auf die Zukunft
Saarbrücken · 100 Jahre alt zu werden, das ist etwas Besonderes. Was haben unsere 100-Jährigen wohl alles erlebt? In unserer Serie erzählen betagte Frauen und Männer von ihrem Jahrhundert. Heute: Lina Kiefer, die im Langwiedstift lebt.
75, vielleicht 80. Aber älter würde kaum jemand Lina Kiefer schätzen. Dabei ist sie tatsächlich 100 Jahre alt. Am 12. Februar 1913 wurde sie geboren - in St. Arnual, evangelisch, in der Stiftskirche getauft.
Lina Kiefer hat, zumindest was ihre Gesundheit angeht, unwahrscheinliches Glück. Sie kann nach einer Graue-Star-Operation wieder ohne Brille lesen. Sie hört, wobei ihr ein kleines Hörgerät hilft, alles. "Auch das, was ich nicht hören soll", sagt sie lachend. Und sie ist fit im Kopf, kann problemlos mit allen Leuten kommunizieren, hat keine Schlafprobleme - und sieht gut aus, hat schöne Haare. Und noch eine Besonderheit: Sie ist nicht versunken in Erinnerungen, lebt nicht nur in der Vergangenheit, sondern nimmt Anteil am Leben. Und sie lacht viel. "Ich bin eine Frohnatur", sagt sie. Die Beine wollen zwar nicht mehr so recht, doch ein Rollator hilft.
Lina Kiefer hat es nicht immer leicht gehabt. Sie stammt aus einer kinderreichen, nicht gerade betuchten Familie, hatte sieben Geschwister. "Wir waren arm, aber anständig", sagt sie. Schule in St. Arnual. In Riesenklassen. Und wenn man nicht spurte, gab es Haue. Gymnasium? Nicht dran zu denken. Zu Kriegsbeginn, 1939, hat sie geheiratet und ist mit ihrem Mann, einem Hessen, in die Saarbrücker Uhlandstraße gezogen - dort hat sie gelebt bis 2009, bis sie umgezogen ist ins Langwiedstift. Die Marksteine dazwischen: Kriegsbeginn, der Mann war Soldat, kam immer nur im Urlaub nach Hause. Zwei Kinder wurden geboren - die kleine Tochter 1940 in der Evakuierung in Bad Hersfeld. Das Mädchen ist nur vier Jahre alt geworden, es hatte Leukämie. Im selben Jahr, als das Mädchen starb, 1944, kam der Sohn - da war Lina Kiefer schon wieder in Saarbrücken. Und dann ist ihr Mann gefallen. Es war eine kurze Ehe. Aber sie hat gute Erinnerungen an ihren Mann und hat nie wieder geheiratet. Der nächste schwere Schlag: Der Sohn, der nicht verheiratet war, keine Kinder hatte und bei ihr in der Wohnung lebte, starb mit 47 Jahren. So kommt es, dass Lina Kiefer überhaupt keine Familie hat. Auch alle ihre Geschwister sind schon tot.
Andere Menschen wären über diesem Schicksal trübsinnig geworden. Sie nicht. Sie hat als Köchin gearbeitet, jeden Tag für 100 Personen gekocht - bis sie 65 war. Und in der Freizeit hat sie gestickt und Teppiche geknüpft. Und ist mit dem Saarwald-Verein wandern gegangen. Seit vier Jahren lebt sie jetzt im Langwiedstift, teilt sich ein Zimmer mit einer Frau, der es nicht so gut geht. Ihr hilft sie, wo sie kann. "Die würd' ich nie im Stich lassen." Lina Kiefer ist zufrieden - und gönnt sich ab und zu ein Gläschen Rotwein.