Die Meisterin der Improvisation

Saarbrücken · Was die berühmte Raute von Kanzlerin Angela Merkel mit Improvisation in der Musik zu tun hat? Das und vieles mehr zeigte Hada Benedito im Künstlerhaus. Für die Teilnehmer war's eine Herausforderung.

 Von links: Stefan Scheib (Kontrabass), Elodie Brochier (Akkordeon), Christina Theis (Klarinette), Maja Sokolova und Workshop-Leiterin Hada Benedito im Künstlerhaus. Foto: Kerstin Krämer

Von links: Stefan Scheib (Kontrabass), Elodie Brochier (Akkordeon), Christina Theis (Klarinette), Maja Sokolova und Workshop-Leiterin Hada Benedito im Künstlerhaus. Foto: Kerstin Krämer

Foto: Kerstin Krämer

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die betuliche Merkel-Raute für Sex steht? In der internationalen Zeichensprache des "Soundpainting" bedeute die Handhaltung der Kanzlerin jedenfalls etwas "sehr Explizites", erläutert Hada Benedito lachend. Die quirlige 33-jährige Spanierin ist Fachfrau für "Soundpainting": eine Art Gebärdensprache für Echtzeitkomposition, mit der ein improvisierendes Ensemble dirigiert werden kann.

Erfunden wurde der Zeichenkodex 1974 von dem New Yorker Komponisten Walter Thompson; er wird aber beileibe nicht nur von Musikern, sondern auch von Tänzern, Schauspielern und anderen Künstlern verstanden. Der Dirigent als Klangmaler gibt den Ausführenden dabei mit Gesten bestimmte Parameter vor, mit denen sich die Form der Improvisation beeinflussen lässt. Mittlerweile existiert eine Sammlung von mehr als 1200 Zeichen; diese Menge würde die Teilnehmer von Hada Beneditos Kurs aber glatt überfordern. Im Rahmen des Wochenend-Festivals der Reihe Künstlerhausmusik gibt die Wahl-Berlinerin einen begleitenden dreitägigen Workshop zum Thema "Soundpainting" und konzentriert sich dabei auf ein limitiertes Vokabular.

Das ist Herausforderung genug, wie sich beim heiter-entspannten Auftakt am Freitag zeigt. Denn es erfordert höchste Konzentration, die Bedeutung der jeweiligen Gesten abzuspeichern und sie im Eifer des Gefechts blitzschnell in die Tat umzusetzen. Wenn Benedito plötzlich einen Schritt auf sie zumacht, mit den Armen Blitze zucken lässt, ihre Hände zu einem Dach formt oder die Finger kreisend zwirbelt, steht den vier Teilnehmern bisweilen die Verwirrung ins Gesicht geschrieben: Bin ich jetzt dran? Was muss ich machen? Leiser, lauter, langsamer oder schneller spielen? Wiederholen? Das oberste Gebot lautet "Bloß nicht aussteigen!"; egal, ob man noch den Durchblick hat oder nicht. Sehr souverän agieren Stefan Scheib und Elodie Brochier: Der Bassist und Komponist (zugleich künstlerischer Leiter der Künstlerhausmusik) und die französische Performerin, die hier Stimme und Akkordeon einsetzt, bringen professionelle Erfahrung im Improvisieren mit und sind auch um kreative Einfälle nicht verlegen. Sehr gut schlägt sich auch Klarinettistin Christina Theis, obwohl die Musikpädagogin eher aus dem konservativeren klassischen Bereich kommt.

Etwas schwerer tut sich Maja Sokolova, als bildende Künstlerin die Exotin der Runde. Als jemand, der es gewohnt ist, ergebnisorientiert zu arbeiten, hadert sie mit der Prozesshaftigkeit der Sache und überlegt zugleich, wie sie ihre kleinen Zeichenblatt-Skizzen beim sonntäglichen Abschlusskonzert für die Zuschauer sichtbar machen kann. Ob Kamera und Beamer Abhilfe schaffen? Bis zur Lösung des Problems betätigt sie sich als Objekt-Percussionistin und klappert mit Geschirr und Besteck.

Hada Benedito, die als Pianistin auch Stummfilme live vertont und 2012 das "Berlin Soundpainting Orchestra" gründete, spendet ermutigendes Lob. Übrigens: Klappt man die Merkel-Raute nach oben, wird daraus das Symbol für "Improvisieren". Zu einem Festival wuchs am vergangenen Wochenende die Improvisations-Reihe "Musik im Künstlerhaus". Im Rahmen des dreitägigen Treffens hatte der künstlerische Leiter Stefan Scheib im Saarländischen Künstlerhaus in der Karlstraße auch zu einem "Soundpainting"-Workshop geladen, dessen Teilnehmer für das sonntägliche Abschlusskonzert angekündigt waren. Am Samstagabend stand sogar ein Doppelkonzert auf dem Festivalplan: Nach dem Duo Oguz Büyükberber und Tobias Klein (Bassklarinetten) hatten sich der aus dem Saarland stammende Wahlberliner Olaf Rupp (E-Gitarre) und sein RMF-Trio mit Matthias Müller (Posaune) und Rudi Fischerlehner (Schlagzeug) angesagt. Die Eröffnung am Freitag bestritt das Wiesbadener Improvisationsensemble (WIE): Mit 29 Jahren in Originalbesetzung zählt es zu den dienstältesten Formationen des Improvisationsgenres, war bereits unter Scheib (er leitet die Konzerte seit Herbst 2013) im Künstlerhaus zu Gast und unter dessen Vorgänger Hans Husel sogar noch in der Stadtgalerie am St. Johanner Markt. Dem derart eingespielten Dreier bereitete es keine Mühe, hier binnen Sekunden ungemein homogene Sounds aufs Podium zu zaubern. Auch wenn Dirk Marwedel (Saxofon), Ulrich Phillipp (Kontrabass) und Wolfgang Schliemann (Schlagzeug) individuelle Manöver starteten, blieb das Geschehen bis in die kleinsten Details durchhörbar.

Schier unendlich schien der Reichtum des WIE-Klanguniversums; das ging weit über den experimentell-verfremdenden Einsatz des Stamminstrumentariums hinaus: So erfreute Marwedel nicht nur mit den üblichen Luft- und Klappengeräuschen des Saxofons, ließ Phillipp nicht nur den Streichbogen zwischen den Saiten seines Kontrabasses schnarren, ließ Schliemann nicht nur die Felle der Trommeln drohend brummen. Darüber hinaus war ein umfangreiches Arsenal an (Alltags-) Gegenständen zu bestaunen, die zu Klang- und Geräuscherzeugern umfunktioniert wurden: Da wurden Luftballons aufgeblasen, stimmten in Metallschalen kreisende Kugeln ein Summen an, wurden mannigfaltige Materialien zum Klingen gebracht. Man fühlte sich in eine gespenstisch betriebsame Geräuschemanufaktur versetzt und glaubte, in den besten Momenten sogar einem einzigen atmenden Wesen gegenüberzusitzen. Die Musiker und ihr Instrumentarium traten in den Hintergrund, hier regierte nur noch der Klang. Das begeisterte Auditorium erklatschte eine Zugabe.

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