Das Singen der Saarbahn

Saarbrücken für Fortgesrittene · Drinnen versuchten wir, Spinnerei und Wirklichkeit aufeinanderzuhetzen, um herauszufinden, was in unserer Welt schiefläuft. Draußen rauschte in regelmäßigen Abständen die Saarbahn vorbei. Das Quietschen der Saarbahnräder auf den Gleisen drang durch die Nacht. Es klang, als tauche neben dem Boot ein Ungeheuer aus der Tiefe auf.

 Saarbahngeräusche können nerven – oder inspirieren. Foto: Becker&Bredel

Saarbahngeräusche können nerven – oder inspirieren. Foto: Becker&Bredel

Foto: Becker&Bredel

Das Boot, die Joyce-Medea, die der Schauspieler Boris Pietsch vor gut drei Jahren mit Freunden auf den Landwehrplatz stellte, um dort über das Leben nachzudenken, steht inzwischen im Weltkulturerbe Völklinger Hütte und rostet vor sich hin. Das Singen der Saarbahn, dass ich damals zum ersten Mal als solches wahrgenommen habe, ist geblieben. Es ist für mich zum Sound meiner Stadt geworden.

Morgens ab etwa vier ist es zu hören, gut eine Stunde nach Mitternacht verstummt er, der Gesang dieser Maschine, die sich durch Häuserschluchten schlängelt. Würde mich jemand bitten, Saarbrücken mit einem einzigen Geräusch zu beschreiben, dann würde ich ihn die Saarbahn hören lassen.

Und wenn es mir erlaubt wäre, zu diesem Geräusch ein paar Zeilen zu schreiben, dann würde ich von den Menschen berichten, mit denen sich die große Maschine jeden Tag durch die Stadt pflügt.

Von denen, die morgens mit müden Augen aus den Fenstern schauen, als wären sie noch in ihren Träumen. Von den lauten, meistens jungen Leuten, die lachen, rumalbern und drängeln, als würde sonst ihr Leben stehen bleiben. Von denen, die ungeduldig auf die Uhr schauen und für die jedes Abbremsen, das Zeit kostet, eine Zumutung zu sein scheint. Von denen, die wirken, als wäre es ihnen recht, noch lange nicht anzukommen, weil in Nähe der Haltestelle, an der die aussteigen werden, eine leere Wohnung oder ein volles Arztzimmer auf sie wartet.

Von denen, die am Bahnhof ihre Koffer in die Bahn schieben, nicht so recht wissend, was sie in dieser Stadt erwartet. Und von denen, die mit ihren Koffern in der Bahn in Richtung Bahnhof sitzen, Erinnerungen im Gepäck oder Abschiedsschmerz.

Von denen, die morgens müde zur Arbeit fahren und abends noch müder zurück. Von denen, die gespannt in den Tag hinein fahren, weil sie voller Zuversicht sind. Von denen, die in die Nacht aufbrechen, um sie zum Tag zu machen. Und von denen, die auf dem Heimweg beim Einsteigen in die Bahn zwar torkeln - ein bisschen aber auch vor Glück.

Von all diesen Menschen singt die Saarbahn ein Lied. Jedenfalls scheint es mir so, wenn ich das Quietschen höre, dass ihre Räder von den Schienen aufsteigen lassen.

Sie wollen dem Autor dieser Kolumne Ihr Meinung sagen oder haben eine Geschichte aus der Saarbahn zu erzählen? Dann schreiben Sie an m.rolshausen@sz-sb.de

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