"Das hat mein Leben verbaut"

Saarbrücken · Saarbrücken. Er war unendlich stolz, als er im Zug saß. Für Werner Klein (62, Name geändert) war diese Fahrt ein Triumph - ein Triumph über seine Lese-Rechtschreibschwäche. Denn noch Jahre zuvor wäre es für ihn unmöglich gewesen, die Anzeigen zu entziffern, um sich in den richtigen Wagen zu setzen. "Ich konnte gar nichts, weder lesen noch schreiben"

 Für Menschen mit einer Lese-Rechtschreibschwäche ist jeder Tag ein Kampf mit den Buchstaben. Doch dies muss nicht sein. Den allermeisten Betroffenen kann in Kursen geholfen werden. Foto: dpa

Für Menschen mit einer Lese-Rechtschreibschwäche ist jeder Tag ein Kampf mit den Buchstaben. Doch dies muss nicht sein. Den allermeisten Betroffenen kann in Kursen geholfen werden. Foto: dpa

Saarbrücken. Er war unendlich stolz, als er im Zug saß. Für Werner Klein (62, Name geändert) war diese Fahrt ein Triumph - ein Triumph über seine Lese-Rechtschreibschwäche. Denn noch Jahre zuvor wäre es für ihn unmöglich gewesen, die Anzeigen zu entziffern, um sich in den richtigen Wagen zu setzen. "Ich konnte gar nichts, weder lesen noch schreiben". Eine Tatsache, die dazu führte, dass er einen Teil seiner Persönlichkeit verheimlichte. "Das hat mein Leben verbaut. Wenn ich nochmal auf die Welt komme, möchte ich das können."Wobei er "es" heute kann. Mechtild Müller-Benecke bescheinigt dem Mann aus dem Regionalverband Saarbrücken, dass er heute gut lesen und passabel schreiben kann.

Sie ist pädagogische Mitarbeiterin der Volkshochschule (VHS) im Regionalverband Saarbrücken für den Bereich Alphabetisierung und Ansprechpartnerin für Menschen wie Werner Klein, die bei der VHS Hilfe suchen, um lesen und schreiben zu lernen. Und dies sind viele. Kürzlich sind wieder neue Kurse gestartet, insgesamt bietet die VHS derzeit sieben an. Etwa 70 bis 80 Menschen besuchen pro Jahr solche Kurse, schätzt die Expertin. Sie weist darauf hin, dass man jederzeit einsteigen kann.

Dass ein deutschsprachiger Erwachsener überhaupt nicht schreiben und lesen kann, ist selten. Die meisten - im Regionalverband etwa 25 000 bis 30 000 Menschen - sind laut Müller-Benecke "funktionale Analphabeten", sie haben schon gewisse Lese- und Schreibfähigkeiten. Diese sind aber zu gering und bereiten deshalb Probleme.

Und es gibt unendlich viele Hürden, wie Werner Klein aufzählt: "Auf der Arbeit muss man etwas lesen oder schreiben. Man muss Briefe, beispielsweise von der Versicherung, lesen. Auf der Bank oder im Krankenhaus was unterschreiben. Im Restaurant eine Karte lesen, ein Navi bedienen…." Müller-Benecke fügt hinzu, dass es "heute noch schwieriger ist, weil es im Gegenteil zu früher weniger Hilfsarbeitertätigkeiten gibt" - solche, wie sie auch Werner Klein ausführte: "Ich konnte halt nix, da wurde ich in die Fabrik gesteckt." Einige wenige Eingeweihte halfen ihm, wenn er etwas nicht entziffern konnte.

Durchschnittlich zwischen 35 und 55 Jahre sind die Leute alt, die bei der VHS anklopfen. Viele kommen aus eher "bildungsfernen Schichten", wo wenig gelesen wird, erklärt die Fachfrau: "Das Elternhaus spielt eine große Rolle." Das Basiswissen fehlt. "Irgendwann kommen die Menschen dann nicht mehr weiter, haben Kinder bekommen, gebaut und so weiter." Alle, sagt sie, sind sehr sensibel. Alle haben schon die bittere Erfahrung gemacht, sich zu verstecken, sich in Ausflüchte zu retten. Viele haben dadurch ein geringes Selbstwertgefühl, fühlen sich manchmal auch von anderen abhängig. Die Hemmschwelle, über das Problem zu sprechen, ist groß.

Um diese Ängste abzubauen, steht am Anfang ein persönliches Beratungsgespräch, das auch anonym geführt werden kann. Danach wird in kleinen Gruppen gelernt, oft über zwei, drei Jahre: "Hier entsteht eine sehr persönliche Atmosphäre." Eine Umgebung, die auch Werner Klein half, seine Schwäche zu überwinden. Lieblingslektüre? Klar, hat er, "zum Beispiel das Buch von Hape Kerkeling". Sein neues Ziel: Er will E-Mails nicht nur lesen, sondern auch schreiben können, besucht deshalb wieder einen Kurs.

Müller-Benecke freut sich, sieht sie die Fortschritte der Teilnehmer. Aus vielen Jahren Erfahrung weiß sie: "So gut wie jeder kann lesen und schreiben lernen - fast in jedem Alter."

Volkshochschul-Ansprechpartner im Regionalverband sind in Saarbrücken Mechtild Müller-Benecke, Bahnhofstraße 47-49, Tel. (06 81) 506 43 38, E-Mail: mechtild.mueller-benecke@rsvbr.de (VHS Regionalverband Saarbrücken); in Völklingen: Christoph Rech, Altes Rathaus, Bismarckstraße 1, E-Mail: christoph.rech@voelklingen.de, Tel. (0 68 98) 13 25 85 (VHS Völklingen).

Foto: ulrike Paulmann

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