Das große Ausschusswahl-Debakel
Saarbrücken · Wild schießen sie ins Kraut – die Theorien über den Paukenschlag in der Stadtratssitzung vom 9. September. Denn diese Sitzung bescherte Saarbrücken eine kleine Sensation. Die kleinen Parteien probten den Aufstand. Die SPD kassierte eine saftige Klatsche. CDU, Linke und Grüne staunten. Die SZ erklärt, wie es dazu kam.
Auf den ersten Blick sah alles nach einem Routinetermin aus, als der Stadtrat am Dienstag, 9. September, zusammenkam, um seine Ausschüsse zu wählen. Die Ausschüsse - das sind die Gremien, die alle Ratsentscheidungen vorbereiten. Und die großen Parteien hofften, sie könnten alle 157 Ausschuss-Sitze allein unter sich verteilen. Dabei wären AfD, FDP , Piraten, Freie Wähler und NPD - also rund 14 Prozent des Rates - leer ausgegangen. Aber dann kam die Überraschung. Die kleinen Parteien schossen quer. Die Sitzung wurde zum Fanal. Ergebnis: Die Kleinen haben jetzt insgesamt 12 Ausschuss-Sitze, und die SPD ist sauer.
Spiegelbild des Wählerwillens
Was war passiert? Im Mai wählte Saarbrücken einen neuen Stadtrat. Die SPD hat 20 Sitze, die CDU 19, Linke 8, die Grünen 7, die AfD 3, die FDP 2, die Piraten 2, die Freien Wähler einen und die NPD einen.
Bei der ersten Sitzung des neuen Rates am 8. Juli beschloss die Mehrheit: Erstens, der Rat bildet 17 Ausschüsse, fast alle haben neun Mitglieder. Zweitens, die neun Sitze werden wie folgt verteilt: 4 für die SPD , 3 für die CDU , einer für die Linken, einer für die Grünen. Die Beschlussvorlage stammte von der Stadtverwaltung.
Nun verlangt aber das Grundgesetz (GG), dass die Ausschüsse ein verkleinertes Spiegelbild des Rates sein sollen - also ein Spiegelbild des Wählerwillens. Professor Bernd Richter, der für die Freien Wähler (FW) im Saarbrücker Rat sitzt, folgert: Die kleinen Parteien müssen - wenn sie es wollen - irgendwie mitspielen dürfen, vielleicht nicht in jedem Ausschuss. Aber bei insgesamt 157 Sitzen müssen die Kleinen halt auch ein paar abbekommen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVG ) hat 2003 und 2009 festgezurrt, wie ein Stadtrat seine Ausschüsse besetzen muss. Erste Möglichkeit: Alle Fraktionen und Einzelmitglieder einigen sich auf eine Namensliste, genannt Wahlvorschlag, den sie dann einstimmig beschließen. Zweite Möglichkeit: Alle Fraktionen und Einzelmitglieder machen ihren eigenen Wahlvorschlag, und dann wird geheim abgestimmt. Dabei sind "gemeinsame Wahlvorschläge" mehrerer Fraktionen unzulässig. In seiner zweiten Sitzung am 9. September wollte der neue Stadtrat nun also seine Ausschuss-Mitglieder wählen.
Zwei Treffen zur Vorbereitung
Mit Datum vom 29. August schickte die Stadtverwaltung allen Ratsmitgliedern einen Beschlussvorschlag: acht Seiten, 157 Namen, keiner aus einer kleinen Partei. Denn dieser Vorschlag basierte ja auf der "Ratsentscheidung" vom 8. Juli (siehe oben). Und die Großen hätten diese Liste gerne am 9. September beschlossen.
Um die Sitzung vorzubereiten, lud die Stadtverwaltung am 1. und am 8. September alle Fraktionschefs zu Treffen mit Rechtsdezernent Jürgen Wohlfarth . Dort erklärte die Verwaltung den Fraktionschefs , dass sie am 9. September drei Möglichkeiten haben: Erstens, sie stimmen zu, zweitens, sie beteiligen sich nicht an der Abstimmung. In beiden Fällen akzeptieren sie damit, dass sie in keinem Ausschuss vertreten sind.
Dritte Möglichkeit: Sie enthalten sich oder stimmen dagegen. Dann müsse allerdings jeder Ausschuss - gemäß BVG - in geheimen Wahlen besetzt werden, und das sei ein "umständliches und zeitfressendes Wahlverfahren".
Sven Wagner, der Vorsitzende der AfD-Fraktion erklärte, seine Fraktion werde dagegen stimmen. Dasselbe hatte - bei einem anderen Anlass - auch Bernd Richter (FW) angekündigt. Dann kam die Sitzung vom 9. September. Vorsorglich erklärte Rechtsdezernent Wohlfarth auch hier die rechtliche Situation. AfD und Freie Wähler blieben hart. Daraufhin beantragte SPD-Fraktionschef Peter Bauer geheime Wahl für jeden einzelnen Ausschuss.
Ergebnis: Die AfD hat jetzt fünf Ausschuss-Sitze, die FDP vier, Bernd Richter (FW) drei. Offenbar haben sich AfD, FDP und FW spontan gegenseitig gewählt. Und offenbar hatten die großen Parteien damit nicht gerechnet. Die SPD hat insgesamt 13 Sitze weniger als ihr nach dem "Beschluss" vom 8. Juli "zustünden", die Grünen verlieren einen. Die CDU gewinnt zwei.
SPD will eine juristische Prüfung
Fraktionschef Peter Bauer glaubt: Kleine Parteien handelten unzulässig
Saarbrücken. Die SPD will die Stadtratsbeschlüsse vom 9. September juristisch prüfen lassen. Nach Auffassung von SPD-Fraktionschef Peter Bauer bildeten die kleine Parteien - als sie sich gegenseitig wählten - eine Zählgemeinschaft. Und das ist laut Bundesverwaltungsgericht (BVG ) unzulässig. Bauer glaubt außerdem, dass es unzulässig gewesen wäre, wenn der Rat - unter Beteiligung der Kleinen - für jeden Ausschuss einvernehmlich gemeinsame Wahlvorschläge erarbeitet und einstimmig abgesegnet hätte. Denn laut Bauer muss jeder einzelne Ausschuss ein Spiegelbild des Rates sein - und das sei nur gewährleistet, wenn sich allein SPD , CDU , Linke und Grüne die Mandate teilen. In Paragraf 48 Kommunalselbstverwaltungsgesetz (KSVG) heißt es: "Bei der Besetzung der Ausschüsse sollen die im Gemeinderat vertretenen Parteien und Gruppierungen entsprechend ihrer Stärke berücksichtigt werden. Ergibt sich keine Einigung, so werden die Mitglieder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt." Stadt-Pressesprecher Thomas Blug erklärt: "Im KSVG gilt für die Besetzung der Ratsausschüsse das Prinzip der Einigung (ohne Gegenstimmen und Enthaltungen) oder der Verhältniswahl mit dem Auszählverfahren nach d'Hondt."
Meinung:
Da brummt der Schädel
Von SZ-Redakteur Jörg Laskowski
Das ist schon eine extrem vertrackte Sache, die da im Stadtrat abgelaufen ist. Wenn man das durchschauen will, brummt einem ruck, zuck der Schädel wie ein Bienenhaus. Aber Vorsicht. Schuld daran ist nicht die Demokratie . Nein. Ganz im Gegenteil. Schuld sind vielmehr die Leute, die immer alles für sich allein haben wollen - in diesem Fall eben alle 157 Ausschuss-Sitze. Nach dem Motto: Was schert uns das Grundgesetz (GG). Sicher. Unsere Rechtsprechung erlaubt, dass die Großen alles kriegen, wenn die Kleinen freiwillig verzichten. Aber wer diesem Staat dienen will, sollte grundsätzlich versuchen, alle an Bord zu bringen. Und nur wenn das nicht klappt, kommt die zweitbeste Lösung in Frage. Das heißt in diesem Fall: Die großen Parteien hätten von Anfang an eine Lösung anstreben müssen, an der auch die kleinen beteiligt sind. Außerdem ist es absurd, dass im Juli eine Stadtratsmehrheit beschlossen hat, wie eine Abstimmung im September ausgehen wird. Gut, dass dieser Quatsch in die Hose ging. Und noch eins: Beim Abstimmungsmarathon am 9. September fiel der Begriff "Demokratie-Wahnsinn". Auweia! Wer dieses Paradoxon benutzt, braucht Nachhilfe in Sachen Demokratie - und ist sicher nicht reif für ein Stadtratsmandat. Denn die Demokratie sorgt ja gerade dafür, dass der Wahnsinn in der Politik nicht überhand nimmt. Klar ist das manchmal anstrengend. Aber für die Demokratie gilt halt auch das, was der große Karl Valentin einst über die Kunst sagte. Analog formuliert: Demokratie ist schön - macht aber viel Arbeit.