Arme Menschen klagen an - Jeder sechste Saarländer lebt am Rande des Existenzminimums

Saarbrücken · Arme Menschen sind nicht nur häufiger krank, sie sterben auch früher. Fünf Betroffene erzählten gestern bei einer Veranstaltung in der Arbeitskammer ihre Lebensgeschichte und prangerten ein „unsolidarisches Gesundheitssystem“ an.

 Uwe Hein, Beate Philippi, Manjeet Singh, Marianne Rau und Jürgen Veit protestieren dagegen, dass es vom Einkommen abhängt, wie gesund jemand ist. Foto: Becker&Bredel

Uwe Hein, Beate Philippi, Manjeet Singh, Marianne Rau und Jürgen Veit protestieren dagegen, dass es vom Einkommen abhängt, wie gesund jemand ist. Foto: Becker&Bredel

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Etwa um den 20. des Monats musste sich Uwe Hein entscheiden: Lebensmittel oder Medikamente? "Für beides hat das Geld nicht mehr gereicht", sagt der 55-Jährige, der von Erwerbsunfähigkeitsrente lebt. Er entschied sich für das Essen und bereute den Entschluss einen Tag später sehr. Hein leidet an chronischen Schmerzen .

Es wurde schon viel debattiert über Armut in Deutschland , doch selten kamen dabei die Betroffenen zu Wort. Das war gestern auf einer Veranstaltung der Arbeitskammer und der Saarländischen Armutskonferenz anders: Fünf Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben, erzählten ihre Geschichte und bauten aus Pappkartons eine symbolische Klagemauer auf, mit Anklagen an Politik und Gesellschaft. Denn nach wie vor gilt in Deutschland: Armut macht krank. Einem Hartz-IV-Empfänger stehen rund 50 Cent pro Tag für seine Gesundheit zur Verfügung, Zuzahlungen für Zahnersatz oder Brillen können sich viele nicht leisten.

Als arm gilt, wer von weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens lebt, in Deutschland entspricht das etwa 869 Euro netto. Jeder sechste Saarländer ist arm. Beate Philippi ist eine von ihnen: 25 Jahre lebte die 57-Jährige auf der Straße. Die Folge der vielen Nächte im Freien: Arthrose. "Ich habe es geschafft, aus der Misere rauszukommen", sagt sie. Heute hat sie einen festen Job, die Schmerzen in den Gelenken aber bleiben. Oder Manjeet Singh: Der 32-Jährige ist suchtkrank, eine Krankenversicherung hat er nicht. Nach einem Entzug stand er wieder auf der Straße, mit 2000 Euro Schulden. 140 000 Deutsche sind Schätzungen zufolge nicht krankenversichert.

"Wir brauchen ein solidarischeres Gesundheitssystem", sagt Professor Gerhard Trabert. Das System werde zunehmend privatisiert: Immer häufiger würden Zuzahlungen fällig für Medikamente und Behandlungen. Der Arzt weiß, wovon er spricht. Mit Spendengeldern betreibt er in Mainz eine Ambulanz, in der Obdachlose und Menschen ohne Versicherungsschutz behandelt werden. "Wir wollen keine Armutsmedizin etablieren", betont er. Ziel sei es, arme Menschen in das bestehende Gesundheitssystem zu integrieren. Dafür müssten die Sozialleistungen erhöht und Zuzahlungen abgeschafft werden.

Den Veranstaltern ging es in erster Linie darum, die Sicht der Betroffenen deutlich zu machen. "Wir brauchen mehr Solidarität und Zusammenhalt in der Gesellschaft", sagt Wolfgang Edlinger, Vorsitzender der Saarländischen Armutskonferenz. Dann lasse sich auch die Politik unter Druck setzen. Im nächsten Jahr soll die "Klageschrift" an Menschen in Politik, Gewerkschaften und Kirche überreicht werden. Ein Anklagepunkt lautet: "Politikern ist unsere Gesundheit egal." Dass zu der Veranstaltung außer der Linken-Abgeordneten Heike Kugler und einem Mitarbeiter des Sozialministeriums niemand aus der Politik erschienen war, fand Uwe Hein denn auch "respektlos".

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