„Alt sein heißt immer häufiger allein sein“

Der Gießener Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer (Jahrgang 1939) fordert einen neuen Umgang der Gesellschaft mit der Demenz. Diese sei keine Krankheit, sondern vor allem eine Alterserscheinung. Heute spricht Gronemeyer über das Thema bei einem Demenz-Kongress des Roten Kreuzes Saar in Eppelborn. Vorher beantwortete er Fragen von SZ-Redakteurin Ute Klockner.

Ihr Buch trägt den provokanten Titel "Das 4. Lebensalter - Demenz ist keine Krankheit". Was ist Demenz stattdessen?

Gronemeyer: Es ist in erster Linie eine Alterserscheinung. Der Versuch, das Thema Demenz mit dem Stempel Krankheit zu versehen, hat die Aufgabe, uns davon zu entlasten, was die soziale Seite der Demenz angeht. Diese kommt zu kurz. Wenn wir das wahrnehmen, dann fällt uns vielleicht auch etwas anderes ein, als die Leute nur in die medizinischen Praxen zu schicken und sie als Pflegefälle zu betrachten.

Was muss sich im Umgang mit der Demenz ändern?

Gronemeyer: Es geht darum, dass wir uns selbst neu erfinden als eine Gesellschaft, in der die Menschen mit demenziellen Einschränkungen nicht gleich darauf verwiesen werden: Ab ins Heim. Wir müssen uns fragen: Was können wir jetzt eigentlich machen? Dafür gibt es kein Rezept. Viele Angehörige, die Menschen mit Demenz pflegen, trauen sich oft gar nicht auf die Straße, weil Demenz irgendwie als etwas Peinliches angesehen wird. Ich glaube, da braucht es eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit dafür, dass man vielleicht mal beim Nachbarn klingelt und sagt, kann ich dich mal für ein oder zwei Stunden entlasten, sodass du mal zum Friseur oder ins Kino gehen kannst und ich kümmere mich. So einfache Dinge sind es ja, um die es geht.

Verschärft die sich verändernde Gesellschaftsstruktur die Situation?

Gronemeyer: Die alten sozialen Milieus, in die die Menschen früher eingebunden waren, Familie, Nachbarschaft etc., die bröckeln ja vor unseren Augen. Und alt sein heißt immer häufiger eigentlich allein sein.

Was können Kommunen tun?

Gronemeyer: Kommunen sind der Ort, an dem die Debatte beginnen muss. Wir von der Aktion Demenz haben 150 Kommunen gefördert. Auf der Homepage des Projekts Demenzfreundliche Kommunen sind hunderte von Beispielen, was in den Kommunen geschieht, angefangen von Gottesdiensten für Menschen mit Demenz bis hin zu Demenzpaten oder Kunst und Demenz.

Wie entwickelt sich die Zahl der Demenzkranken?

Gronemeyer: Gegenwärtig sind es 1,4 Millionen Menschen in Deutschland, es werden in zehn Jahren ungefähr zwei Millionen sein. Das Thema Demenz gehört zu den ganz großen sozialpolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Wenn wir uns da nichts einfallen lassen, was die Menschen tun können, wenn wir nur auf die Ärztezentren, die Apotheken und die Heime verweisen, dann wird das Thema uns überrollen.

Sie nennen die Einsamkeit vieler alter Menschen als einen Einflussfaktor. Was ist darüber hinaus für den Anstieg der Demenzverantwortlich?

Gronemeyer: Demenz ist ein Phänomen, das die Menschheit seit jeher begleitet hat und mit einer älterwerdenden Gesellschaft zusammenhängt. Was inzwischen feststeht ist, dass eine Reihe von den Medikamenten Demenz auslösen oder zumindest fördern. Man ahnt inzwischen, dass ein Teil der Demenz auch mit unseren Lebensgewohnheiten zu tun hat. Offensichtlich ist unsere Ernährungsweise mit viel zu viel Zucker und gleichzeitig viel zu wenig Bewegung etwas, was einen Einfluss darauf haben kann. Das ist natürlich keine Kausalität.

Wie gehen andere Kulturen mit der Demenz um?

Gronemeyer: Ich bin ja sehr viel in Afrika unterwegs. Dort existiert das Thema Demenz fast gar nicht. (…) Es ist auch so, dass die starke familiäre Einbindung zum Beispiel im südlichen Afrika in vielen Gesellschsften da ist, führt erstens dazu, dass die Demenz nicht so krass auffällt, und zweitens scheint es so zu sein, dass es sie weniger gibt.

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