Festival Perspectives 40 Jahre grenzenloses Theaterglück

Saarbrücken · Das Festival Perspectives feiert Geburtstag. Ein Blick zurück auf glückliche Tage und tiefe Täler, auf Finanznöte und kleine Skandale.

 Eine der allerersten Aufführungen bei Perspectives war das Gastspiel des Centre Dramatique de la Courneuve mit „Till Eulenspiegel“. Archivfoto: La Courneuve

Eine der allerersten Aufführungen bei Perspectives war das Gastspiel des Centre Dramatique de la Courneuve mit „Till Eulenspiegel“. Archivfoto: La Courneuve

Saarbrücken "May B.", das legendäre Tanztheater von Maguy Marin. "Le Bal", dieses sensationelle Stück vom Théâtre Campagnol. Der Pferdezirkus Cirque Aligre. Wer tatsächlich von Anfang dabei war beim Festival Perspectives, schwärmt bis heute von diesen Produktionen.

Es war so unerhört und nie gesehen, was vor unglaublichen 40 Jahren der damalige Staatstheater-Dramaturg Jochen Zoerner-Erb als "Woche des jungen französischen Theaters" nach Saarbrücken brachte. Ganz andere Bildsprachen, ganz andere Themen und ganz andere Spielorte sah man da.

Etwa 1983: Da inszenierte der junge Regisseur François Michel Pesenti den "Promethée enchainé", den gefesselten Prometheus - in der abbruchreifen Atlas-Copco-Halle. Die stand irgendwo am Ludwigskreisel. Es war kalt, es war schmutzig, das Stück düster und fesselnd. So archaisch hatte man Aischylos noch nie gesehen.

Oder die ersten französischen Zirkusse. Bevor die Perspectives kamen, dachte hierzulande bei Zirkus jeder nur an Löwen und Clowns. Und dann sah man da auf einmal Verrückte mit Motorrädern oder einen Akrobaten, der ganz allein im Duett mit seiner Reckstange ein stilles, poetisches Märchen erzählte.

Bis heute gehört der zeitgenössische Zirkus zum Saarbrücker Festival wie in Frankreich das Baguette zum Rohmilchkäse. Und während in Rest-Deutschland gerade erst entdeckt wird, dass es solche Zirkusformen gibt, wie Marion Touze, die junge Pressefrau des alten Festivals erzählt, sind wir Saarländer schon seit 40 Jahren Spezialisten dafür.

Oder die Festivalclubs: Bistro Articule - so hießen die anfangs. Da gab es nicht so viele große Konzerte wie heute. Dafür bastelte Mischa Weber, das frankophile Wirts-Urgestein von der Brasserie am St. Johanner Mark, mit Liebe und Geduld an der Atmosphäre wechselnder Örtlichkeiten. Mal traf sich das Festival-Völkchen im Theater im Stiefel (heute ist da das Stiefelbräu), mal im Ratskeller oder in der Wandelhalle der Basilika. Auch die Garage war lange vor ihrer Renovierung Aufführungsort und Bistro fürs Festival (und litt damals schwer unter den harten Lärmschutzauflagen).

In all diesen wechselnden Clubs wurde vor allem: geredet. Dass der Festival-Treff eine Art Nachtclub mit spektakulären Konzerten ist, so wie heute, war damals nicht gewollt und vor allem: Es wäre nicht zu bezahlen gewesen.

Denn so beliebt das Festival beim wachsenden Publikum auch war, in der städtische Politik hatte es zu wenige echte Freunde. Wenn man sich durch die Archiv-Texte unserer Zeitung arbeitet, ist man fassungslos, wie kleinkrämerisch und fahrlässig die Kommunalpolitik und durchaus auch die verschiedenen Kulturdezernenten oft mit dem Festival umgingen.

Schon 1980 fühlte sich die Stadt Saarbrücken nicht mehr in der Lage, den damaligen Etat von 100 000 DM (!) aufzubringen. 1981 wollte man die Perspectives deshalb ausfallen lassen und nur noch alle zwei Jahre veranstalten. Glücklicherweise wurde "nur" der Etat auf beschämende 50 000 Euro gekürzt. Ohne eine Spende der Sparkasse wäre das Festival wohl schon wenige Jahre nach seiner Gründung eingegangen.

Diese unselige Spardebatte begleitete das Festival durch die Jahrzehnte. Auch als andere Festivalleiter auf Jochen Zoerner-Erb folgten: die Finanzdebatte blieb und sorgte für munteren Wechsel an der Festival-Spitze.

Peter Hahn etwa, der 1986 auf Zoerner-Erb folgte, spielte nur ein Jahr. Aber in dieser kurzen Zeit krempelte er das Festival komplett um. Weg vom Experimentellen, hin zu großen Namen. Eugène Ionesco kam so nach Saarbrücken. Die Theater-Legende Madeleine Renaud, damals 86 Jahre alt, spielte ihre legendäre Rolle in "Glückliche Tage" von Beckett.

Viele weitere Festialchefs folgten. Der junge Straßburger Marc Adam etwa brachte wieder neue Gruppen und interessante Orte: Er bespielte die 1987 kulturell noch wenig erschlossene Gebläsehalle in der Völklinger Hütte, brachte den großartigen Choreografen Antonin Preljocaj zu uns, stemmte ein Großtheater in einer Flugzeughalle.

Und er brachte dem Festival seinen bis heute bekanntesten Skandal: Das legendäre Festivalplakat von Tomi Ungerer. Dessen ursprünglicher Entwurf zeigte Napoleon in intimer Pose mit der französischen Marianne. Das war dem damaligen OB Hans-Jürgen Koebnick zu derb. Das Plakat musste weg - und Saarbrücken hatte überregionale Aufmerksamkeit.

Marc Adam nahm 1992 nach weiteren Finanz-Querelen einen Intendanten-Job in Rouen an. Sein Nachfolger, der Schweizer Peter Theiler, lieferte drei Jahre ein solides Festival ohne große Aufreger und ging dann an die Frankfurter Oper. Nach einer fast schon vergessenen Ein-Jahres-Festival-Leitung von Pierre-Jean Valentin übernahm 1997 Christian Caimacan (anfangs noch mit Renate Schäfer als Stellvertreterin) - und verpasste dem Ganzen einen neuen Rahmen: Das komplette Festival fand auf dem Messegelände statt. Die Künstler wohnten sogar in einem Wohnwagen-Dorf vor Ort.

Noch bis 2001 war Caimacan an Bord, bespielte historische Spiegelzelte und das damals noch unrenovierte, raue Burbacher E-Werk - unvergessen etwa eine kalte Theaternacht, in der Eric Ruf und die Compagnie d'Edvine für "Du désavantage du vent" aus der Halle ein dunkles Meer machten, auf dem Fischer in kleinen Schiffchen kreisten.

Während am organisatorischen Überbau des Festivals bis zur Schmerzgrenze herumgedoktert wurde, das Festival bald soviele Mitredner hatte zwischen Stadt, Land und Département Moselle, dass man schnell den Überblick verlieren konnte, blieb es doch erstaunlich quick. Vor allem als 2002 Laurent Brunner übernahm. Der überaus erfolgreiche Leiter der Forbacher Nationalbühne Le Carreau, pustete das Festival mit frischem Wind an so aufregende Orte wie das ehemalige Stadtbad und den Bunker in der Richard-Wagner-Straße.

Brunner ging auch räumlich über die Grenze. Das Carreau war fortan Stamm-Spielort der Perspectives. Und Brunner setzte das deutsch-französische Konzept konsequent um und brachte etwa die Berliner Schaubühne und Martin Wuttke an die Saar.

Weil der Erfolgreiche alsbald ins Pariser Kulturministerium wechselte, blieb er dem Festival nur noch 2003 erhalten. Und die Perspectives gerieten in eine Durststrecke. Es kam Michèle Paradon. Sie zog mit dem Festival ins nunmehr renovierte E-Werk, brachte künstlerisch Ambitioniertes dorthin. Aber das Publikum folgte ihr nicht. In Paradons letztem Jahr als Festivalleiterin 2006 saßen in manchen Produktionen nur eine Handvoll Zuschauer.

Aber es gibt ein Happy-hoffentlich-nicht-End: Vor zehn Jahren kam Sylvie Hamard. Anfangs noch als Doppelspitze mit Stéphane Konopczynski übernahm die Ehefrau von Laurent Brunner das Festival.

Ihr liegen die Perspectives wirklich persönlich am Herzen. Weil sie schon als Studentin in Saarbrücken erste Jobs beim Festival hatte und ihm und der Stadt über die Jahre verbunden blieb, auch wenn sie längst in Paris lebt.

Und die Liebe ist wunderbarerweise bis heute gegenseitig. Das Publikum folgt Hamard zahlreich. Die Veranstaltungen sind fast immer ausverkauft.

Und da das Festival seit 2007 den Störfeuern der Saarbrücker Kommunalpolitik entronnen ist und unter dem Dach der Stiftung für Deutsch-Französische Zusammenarbeit wetterfest unterkam, ist auch die ewige Geld-Debatte verstummt. Es gibt nicht genug Geld, aber es wird auch nicht gekürzt. Die Perspectives sind seit zehn Jahren mehr oder weniger krisenfrei. Besser könnte es zum 40. Geburtstag kaum sein.

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 Kaum noch zu erkennen: In der Garage, noch völlig unrenoviert, wurde 1988 Theater gespielt und auch die Abschlussparty gefeiert. Foto: Julius C. Schmidt

Kaum noch zu erkennen: In der Garage, noch völlig unrenoviert, wurde 1988 Theater gespielt und auch die Abschlussparty gefeiert. Foto: Julius C. Schmidt

Foto: Julius C. Schmidt
 Einer der frühen Clubs: Das Bistro Articule 1984 im früheren Theater im Stiefel. Archivfoto: Julius C. Schmidt

Einer der frühen Clubs: Das Bistro Articule 1984 im früheren Theater im Stiefel. Archivfoto: Julius C. Schmidt

 Hippie-Charme gab es 1981 bei einem Theaterpicknick im Innenhof des damaligen Saarlandmuseums, heute ist hier die Stadtgalerie. Archivfoto: Paulet

Hippie-Charme gab es 1981 bei einem Theaterpicknick im Innenhof des damaligen Saarlandmuseums, heute ist hier die Stadtgalerie. Archivfoto: Paulet

 Plakat des Anstoßes: Tomi Ungerers zensierter Entwurf. Foto: Festival

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Foto: Festival
 Außergewöhnliche Spielorte waren auch später dabei: 1999 war „Du désavantage du vent“ im noch unrenovierten E-Werk zu sehen. Archivfoto: Merkel

Außergewöhnliche Spielorte waren auch später dabei: 1999 war „Du désavantage du vent“ im noch unrenovierten E-Werk zu sehen. Archivfoto: Merkel

 Legendär: Eine Szene aus „Le Bal“, Abschluss und Höhepunkt der vierten Perspectives. foto: Julius C. Schmidt

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 Die Legende: Madeleine Renaud in „Glückliche Tage“. Foto: Guerand

Die Legende: Madeleine Renaud in „Glückliche Tage“. Foto: Guerand

Foto: Guerand
 Zingaro, der legendäre Zirkus, kam mitsamt seinem gefiederten Personal 1986 zum Festival. Foto: Julius C. Schmidt

Zingaro, der legendäre Zirkus, kam mitsamt seinem gefiederten Personal 1986 zum Festival. Foto: Julius C. Schmidt

Foto: Julius C. Schmidt
 Hervé Perard 1983 als „gefesselter Prometheus“ in der Atlas Copco Halle. Foto: Julius C. Schmidt

Hervé Perard 1983 als „gefesselter Prometheus“ in der Atlas Copco Halle. Foto: Julius C. Schmidt

Foto: Julius C. Schmidt

Neun Festivalleiter hatten die Perspectives in 40 Jahren. Nach Jochen Zoerner-Erb folgte Peter Hahn (1986). Dann kamen Marc Adam (1987 bis 1992), Peter Theiler (1993 bis 1995), Pierre Jean Valentin (1996), Christian Caimacan (1997 bis 2001), Laurent Brunner (2002 bis 2003), Michèle Paradon (2004 bis 2006). Seit 2007 ist Sylvie Hamard die Chefin. Der Etat lag anfangs bei 100 000 Mark (rund 50 000 Euro). Der aktuelle Etat heute liegt bei etwa 905 000 Euro, finanziert von der Stadt Saarbrücken (205.000 Euro), dem Land (235 000) und dem Conseil Départemental de la Moselle (80 000 Euro) sowie Sponsoren (148 500 Euro) und über Einnahmen. Die Besucherzahlen des Festivals schwankten stark. Wurden 1982 schonmal 12 000 Zuschauer gezählt - mit Straßentheater! - sackte die Zahl 2004 auf gerade mal 2884 verkaufte Karten ab. Unter Sylvie Hamard ging es steil nach oben mit zuletzt 13 500 verkauften Karten.

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