Praktikum im Reich der Wörter Sich anschauen, wie Gedanken entstehen

Saarbrücken · Im Literaturarchiv ordnen Mitarbeiter, Praktikanten und Ehrenamtliche unter anderem Manuskripte. Wenn mehrere Versionen eines Textes vorliegen, lässt sich sein Werdegang nachvollziehen,

 SZ-Mitarbeiterin Isabell Schirra (l.) im Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass   mit Praktikantin Tamara Köstenbach (M.) und Hermann Gätje.

SZ-Mitarbeiterin Isabell Schirra (l.) im Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass mit Praktikantin Tamara Köstenbach (M.) und Hermann Gätje.

Foto: Iris Maria Maurer

Bevor Tamara Köstenbach mit der Arbeit beginnt, streift sie langsam die weißen Handschuhe über. Bloß nichts schmutzig machen, bloß keine Spuren hinterlassen. Bedächtig nimmt sie eines der Schriftstücke aus dem fast überquellenden Ordner heraus. Schon auf den ersten Blick erkennt sie, um was es sich handelt: einen Brief. Kurz überfliegt sie den Text, routiniert.

Dann entfernt sie vorsichtig mit einem Spartel die Heftklammern am Brief. Schön langsam, so, dass das Papier auf gar keinen Fall beschädigt wird. Anschließend steckt sie den Brief in einen Papierumschlag, der dann, versehen mit den Angaben zum Brief, in einem Archiv-Karton landet.

Tamara Köstenbach arbeitet weder für die Spurensicherung, noch ist sie Privatdetektivin. Und trotzdem ist sie ständig neuen Geheimnissen und Entdeckungen auf der Spur. Als Praktikantin beim Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass sichtet sie die Vor- und Nachlässe, die Autoren und Autorinnen, die in der Großregion Saar-Lor-Lux gelebt oder geschrieben haben, dem Archiv vermacht haben. Und das ist immerhin eine ganze Menge. Hinzu kommen Schenkungen und Ankäufe des Archivs, wie etwa Widmungsexemplare.

Um über die Menge an Material Herr zu werden – sprich alles zu katalogisieren – ist das Literaturarchiv auf die Hilfe von Praktikantinnen wie Tamara Köstenbach angewiesen. Aber auch literatur- und kulturinteressierte Freiwillige werden fortlaufend gesucht. Doch wie sieht so ein Arbeitstag beim Literaturarchiv aus?

Alles beginnt mit den weißen Baumwollhandschuhen. Sie sind für alle im Archiv der ständige Begleiter. Kein Schriftstück wird mit bloßen Händen angefasst, um das oft jahrzehntealte Papier zu schützen. Auch deswegen darf in den Arbeitsräumen nur mit Bleistift hantiert werden. Schließlich ist es die Aufgabe des Archivs, die Archivalien zu schützen, zu erhalten. Unter diesen Bedingungen erschließen die Freiwilligen unterschiedliche Archivdokumente wie Vorlässe, Nachlässe oder Sammlungen, anschließend verpacken und archivieren sie die Archivgüter.

Dabei soll „es nicht bloß um stures Abheften gehen“, betont Dr. Sikander Singh, Leiter des Literaturarchivs. Obwohl sich der Großteil an Schriftstücken nur überfliegen lässt, ist es nicht verboten, bei interessanten Stellen auch mal genauer hinzuschauen. Im Gegenteil: „Wo das Ganze hinführt, ist nicht gesagt“, erklärt Singh. Die Freiwilligen sind eingeladen, in den Briefwechseln, Prosatexten und Gedichten zu forschen, etwas Interessantes zu finden, ihr eigenes Vorwissen einzubringen. So setzen sich einzelne Informationen nach und nach wie ein Puzzle zusammen. Manche Dinge erklären sich mit der Zeit, andere bleiben für immer ein Rätsel. Dass die Freiwilligen ihre Entdeckungen und Ergebnisse auch mal in einem Vortrag vorstellen, schließt Sikander Singh nicht aus.

Dabei sind durchaus auch manchmal detektivischer Spürsinn und kreatives Kombinationsgeschick gefragt. Die Arbeit in Stadtarchiven sei recht monoton, so Singh, schließlich fertigen Ämter und Behörden ihre Akten nach einem einheitlichen Schema an.

Im Literaturarchiv ist die Ausgangssituation eine andere: Jeder Künstler hat sein eigenes, anderes System. „Man muss schon Geduld mitbringen“, lächelt Praktikantin Köstenbach milde. Denn nicht immer hat man das Glück, dass die Künstler ihre Schriftzeugnisse ordentlich sortiert haben. „Als ich bereits glaubte, alles gesehen zu haben, bekamen wir Manuskripte, die in Zeitungen gerollt im Regal aufbewahrt worden waren“, schmunzelt Singh.

Doch natürlich werden die fleißigen Helfer auch für ihre Arbeit belohnt – auf ganz besondere Weise. Denn durch die Arbeit an den Vor- und Nachlässen, kann man den Literaturschaffenden quasi „in den Kopf reinsehen“, wie Singh sagt. Man nähert sich dem Menschen, der da geschrieben hat, auf intime Art und Weise – und das, obwohl man ihn gar nicht kennt. Man glaubt plötzlich die Persönlichkeit des Schriftstellers zu greifen zu bekommen – obwohl er vielleicht längst tot ist. Während man normalerweise nur die finale Fassung eines Textes zu Gesicht bekommt, ermöglichen Materialsammlungen nachzuverfolgen, wie ein Gedanke nach und nach entsteht. Man kann dem Schriftsteller beim Denken zusehen, sozusagen. Und dann spielt da noch eines der großen Themen unserer Zeit eine Rolle: Materialität. Schließlich hat man da handschriftliche Zeugnisse in der Hand. Etwas, das es aus unserer Zeit wohl kaum mehr geben wird.

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