Interview „Die Einsamkeit paart sich mit Angst“

Saarbrücken · Das Kulturzentrum Breite 63 bietet nicht „nur“ Kultur, es ist auch ein Stück Heimat in Molschd – eine Heimat, die nun geschlossen ist.

 Vor allem ältere Leute sind mit der Informationsflut über das Pandemie-Geschehen überfordert, beobachtet Hans-Martin Derow. 

Vor allem ältere Leute sind mit der Informationsflut über das Pandemie-Geschehen überfordert, beobachtet Hans-Martin Derow. 

Foto: Robby Lorenz

In der Corona-Krise zeigt sich wie im Brennglas, dass Kultur in weiten Teilen von Gesellschaft und Politik keinen hohen Stellenwert hat. Das Land der Dichter und Denker ist heute eher das Autoland der Lichter und Lenker. Dabei hat Kultur eine gesellschaftliche Bedeutung, die weit über Bühnenräume hinausgeht. Kultur eröffnet Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu erfahren in Gemeinschaft mit anderen. Vielleicht sogar eine Leidenschaft zu teilen, die sich eben anders äußert als auf dem Fußballplatz. Wichtige Orte für diese Kulturerfahrung sind auch die soziokulturellen Zentren, die Nachbarschafts-Kulturtreffs. Einer davon, der bekannteste in der Stadt, ist die  Breite 63. Wir haben mit ihrem Leiter Hans-Martin Derow über die Folgen der aktuellen Einschränkungen für seine „Kunden“ gesprochen.

Es wird derzeit viel geschrieben über die Kultur, die in der Corona-Krise in existenzielle Bedrängnis gerät. Dabei geht es allerdings meistens um die „hohe“ Kunst, es geht um Festivals, Konzerte, Theater und Kabarett. Weniger hört man von der so genannten Soziokultur, für die ja gerade die Breite 63 steht. Was fällt bei Ihnen alles weg?

Hans-Martin Derow: Die Soziokultur, für die ja in der Breite 63 der Stadtteil Malstatt wichtigster Bezugspunkt ist, erlebt derzeit einen weitestgehenden Stillstand. Dies gilt insbesondere für die Angebote, bei denen sich die Molschderinnen und Molschder mit und ohne Migrationshintergrund aktiv „ausleben“ und ihre Kreativität entfalten können. Der beliebte „Molschder Tanztreff“ etwa, eine Art „Thé dansant“ nach französischem Vorbild, fällt weg. Oder auch das Frauentanzen, bei dem fast ausschließlich muslimische Frauen ohne männliche Beobachtung zusammenkommen.

Als Stadtteilkulturzentrum haben Sie naturgemäß einen engen Kontakt zu den Menschen, die in die Breite 63 kommen. Hören Sie von Ihren „Kundinnen“ und „Kunden“? Erfahren Sie, wie es denen gerade geht?

Derow: Den unmittelbarsten und umfangreichsten Kontakt mit den Molschdern haben wir über unser Stadtteil- & Kulturbistro „Café 63“. Für viele, insbesondere ältere, alleinstehende Stadtteilbewohnerinnen und Bewohner ist das „Café 63“ wie ihr zweites Wohnzimmer, ein unverzichtbarer sozialer Anker, in dem sie sich täglich mehrere Stunden aufhalten. Seit der Schließung bieten wir jetzt wenigstens Mittagessen zum Mitnehmen an. Das erfreut sich großer Nachfrage. Und die dabei entstehenden Gespräche sind mindestens genauso wichtig wie das Essen selbst.

Auch Konzerte sind ja Möglichkeiten zum sozialen Miteinander. Aber auch diese finden nicht mehr statt.

Derow: Ja, das Bedürfnis zur sozialen und kulturellen Teilhabe haben wir auch bei den wenigen Konzerten erlebt, die wir bis Ende Oktober noch durchführen konnten. Alle waren sehr dankbar für jede Gelegenheit, noch Kultur zu (er-)leben, und – großes Kompliment an unser Publikum – die meisten hielten sich sehr diszipliniert und verständnisvoll an die geltenden Vorgaben.

Vor allem Seniorenkultur ist einer Ihrer Schwerpunkte. Die Seniorinnen und Senioren sind aber Risiko-Gruppe und werden im Grunde aufgefordert, sich zurückzuziehen aus dem öffentlichen Leben. Haben Sie Einblicke, was diese Vereinsamung für Ihre Leute bedeutet?

Derow: Die Signale, die wir von unseren Seniorinnen und Senioren bekommen, sind bedenklich. Das Auf-sich-zurückgeworfen-sein empfinden die meisten wirklich, als wären sie von der Gesellschaft und ihrer Umgebung abgeschnitten. Die Einsamkeit paart sich mit einem starken Gefühl der Angst und Unsicherheit, insbesondere bei den älteren Damen. Viele sind von der Informationsflut der Medien über das Pandemie-Geschehen überfordert. Wir bemühen uns deshalb, den Kontakt zu ihnen und unsere Angebote an sie irgendwie aufrecht zu erhalten.

Als Kulturzentrum bieten Sie auch Probenmöglichkeiten für Vereine und Theatergruppen. In den professionellen Theatern darf ja immerhin wenigstens der Probenbetrieb noch laufen. Bei den Amateuren wahrscheinlich nicht. Was erleben Sie da?

Derow: Das große Nichts – mit den strengen Regeln der Kontaktbeschränkungen sind auch für die bei uns im Haus probenden Chor- und Theaterensembles alle Möglichkeiten entfallen, ihren Probenbetrieb aufrecht zu erhalten. Im Sommer konnten zumindest noch Teil-Ensembles proben, also zum Beispiel einzelne Chorstimmen unter sich. Jetzt sind alle Probentermine auf Eis gelegt. Dies betrifft im Übrigen auch Versammlungen, Seminare und Fortbildungsveranstaltungen des Trägers der Breite 63, des Zentrums für Bildung und Beruf Saar, und all der anderen Bildungseinrichtungen und sonstigen Akteure im Stadtteil.

Die Breite 63 ist auch beliebter Ort für verschiedenste Veranstaltungen, die Publikum aus der ganzen Stadt anziehen. So wäre aktuell eigentlich der Zeitpunkt, an dem das beliebte Blues- und Roots-Festivals stattfinden würde. Wie ist es Ihnen da ergangen? Hatten Sie schon alles geplant oder haben Sie bereits frühzeitig gesehen, dass es wohl nicht durchführbar sein würde?

Derow: Ja, die „Bremsspuren“ im Kulturprogramm sind für uns ganz deutlich spürbar. Das gesamte Kulturprogramm im ersten Halbjahr kam im März zum Stillstand. Mit dem Beginn des Kulturherbstes keimte eine Zeitlang die Hoffnung, wenigstens diese Spielzeit auf- und über die Bühne bringen zu können. Diese Hoffnung starb aber bereits, als uns klar wurde, dass es wegen der Beschränkungen im Flugverkehr schon unmöglich werden würde, die beiden Bands von der iberischen Halbinsel für unser Saarbrücker Blues- & Rootsfestival einfliegen zu lassen. Immerhin konnten wir das gesamte Festival-Programm wenigstens um genau ein Jahr verschieben. Trotzdem ist es bitter, dass unser Festival nach 14 Jahren zum ersten Mal ausfallen muss. Sogar 2015, als die Pariser Anschläge im „Bataclan“ waren und wir Musiker aus der Bretagne und Nantes erwarteten, konnte das Festival trotzdem stattfinden.

Wie schauen Sie in die Zukunft?

 Kultur ist auch Mitmachen in der Breite 63, wie hier bei der Reihe  „Musik zum Wünschen und Mitsingen“ für Seniorinnen und Senioren, die die frühere Staatstheater-Sängerin Brigitta Matthieu vor einiger Zeit anbot.

Kultur ist auch Mitmachen in der Breite 63, wie hier bei der Reihe  „Musik zum Wünschen und Mitsingen“ für Seniorinnen und Senioren, die die frühere Staatstheater-Sängerin Brigitta Matthieu vor einiger Zeit anbot.

Foto: Iris Maurer

Derow: Wir hoffen, dass wir vielleicht wenigstes noch die Fotoausstellung mit dem Pop-Rat und das Konzert der Jazz-Zeit am 6. Dezember stattfinden lassen können. Das Veranstaltungsprogramm für das 1. Halbjahr 2021 steht und wird kurz vor Weihnachten wie üblich als Programmbroschüre veröffentlicht werden. Es wird in jedem Fall aber stark von den Corona-Pandemieregeln beeinflusst werden. Es sind beispielsweise fast sämtliche Tanzveranstaltungen und auch der Molschder Karneval ausgesetzt. Wir hoffen trotzdem, unser Publikum in dieser für die Kultur außerordentlich schweren Zeit so oft es irgendwie möglich ist, begrüßen zu können. Bis dahin wünschen wir allen Gesundheit und ein herzliches „Glück auf!“.
www.breite63.de

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