Theater im Viertel Es beginnt mit dem Leichenschmaus

Saarbrücken · Freie Künstler interpretieren Texte Klabunds nach ihrem Gusto. Der mögliche Beginn einer Reihe „vergessener“ Dichter

 Ruth Boguslawski und Sigi Becker – zwei der Künstler, die bei der Klabund-Revue mitwirken.

Ruth Boguslawski und Sigi Becker – zwei der Künstler, die bei der Klabund-Revue mitwirken.

Foto: Kerstin Krämer/Kerstin Kraemer +49/(0)177-196

„Das konnte ich noch nie leiden!“, wettert Dieter Desgranges. „Wenn so etwas chronologisch erzählt wird: Dann und dann wurde er geboren, im Alter von soundsoviel machte er dieses und jenes ...“. Deshalb lässt der künstlerische Leiter des Theaters im Viertel (TiV) die Revue „Kunterbuntergang des Abendlandes“ zu Ehren des Dichters Klabund von hinten beginnen – mit dem Leichenims.

Die Zuschauer sind zu Kaffee und Kuchen eingeladen; serviert wird der trockenste Krümelkuchen, den das TiV auftreiben kann. „Weil der Kuchen auf einem Arme-Leute-Ims immer trocken ist“, erklärt Desgranges. Tatsächlich hat Klabund es Zeit seines Lebens zu nichts gebracht, und auch die Nachwelt flocht dem Dichter keine Kränze. Obwohl er von Zeitgenossen wie Tucholsky, Benn, Kästner oder Wedekind verehrt wurde. Doch schwang in seinen Texten womöglich immer zu viel Melancholie mit, um ihm zu großer Popularität zu verhelfen, und allzu viel Zeit blieb dem 1890 unter dem bürgerlichen Namen Alfred Georg Hermann Henschke geborenen Autor ohnehin nicht: Er verstarb im Alter von erst 37 Jahren in Davos – in seinem 16. Lebensjahr wurde eine Lungentuberkulose diagnostiziert, was einen geradezu exzessiven Schaffensrausch auslöste.

In seinem kurzen Leben produzierte Klabund ein teils erst postum veröffentlichtes und von den Nazis verbranntes Oeuvre: eine Unmenge an Lyrik und Kabarettprogrammen, allein 25 Dramen und 14 Romane, dazu Übertragungen aus dem Chinesischen, Japanischen und Persischen sowie erotische Erzählungen – Ausfluss einer Vitalität, die er seiner tödlichen Krankheit geradezu abtrotzte. Selbige zwang ihn zu diversen Kur-Aufenthalten und verursachte allein schon dadurch finanzielle Engpässe.

Den Künstlernamen Klabund wählte der zwangsreisende Apothekerssohn dann auch als Synonym für einen vagabundierenden Poeten – ein Kompositum aus Klabautermann und Vagabund. Siech, wie er war, wurde er zum Militär nicht eingezogen, pflegte im Ersten Weltkrieg jedoch einen glühenden Hurra-Patriotismus. Der Wandel zum Kriegsgegner vollzog sich erst durch den Einfluss seiner Lebensgefährtin, einer überzeugten Pazifistin. „Neunzig Prozent seines Schaffens drehen sich ums Sterben“, schätzt Desgranges. Er liebt Klabund schon seit 40 Jahren: Gleich seine erste Premiere mit dem „Theater Blaue Maus“ war eine Klabund-Revue. Gemeinsam mit seinem langjährigen Weggefährten, dem Liedermacher Sigi Becker, hat Desgranges nun verschiedene Texte Klabunds ausgewählt und bei Künstlern der hiesigen freien Szene angefragt, ob sie diese nach ihrem jeweiligen Gusto umsetzen wollten. Dabei heraus gekommen ist – nach dem Vorbild italienischer Fußball-Fans – eine Produktion unter dem Label „TiVosi“: Freunde des TiV. Beteiligt sind dabei Endi Caspar und Johannes Schmitz von der Experimental-Jazz-Vereinigung ini-Art, der Liedermacher Zippo Zimmermann, der Barde Sigi Becker sowie die Sängerinnen Ruth Boguslawski und Eva Ohnesorg, der Rezitator und Musiker Karl Heinz Heydecke, der Schauspieler Bob Ziegenbalg sowie die Performerin und Medienkünstlerin Françoise Fournelle.

Zusammen gesetzt werden Rezitation, Theater, Musik, Gesang und Multimedia allerdings erst in der letzten Woche vor der Premiere – bis dahin gilt: Jeder probt für sich allein. Desgranges und Becker überlegen derweil, in Zukunft jedes Jahr einen vergessenen Dichter zu exhumieren. Desgranges schmunzelt: „Wir haben schließlich einen Bildungsauftrag.“

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