Serie Protokoll einer Daheimgebliebenen Die Ukraine ist das übernächste Land

Saarbrücken · Der Saarbrücker Fabian „Theo“ Theobald startete am 1. März seine Reise mit dem Fahrrad vom Saarland nach Vietnam: 20 Länder will er besuchen, 20 000 Kilometer in zwölf Monaten fahren. Dabei engagiert er sich gegen den Klimawandel. Seine Partnerin Judith Rachel berichtet hier regelmäßig aus ihrer Perspektive über das Jahr.

 Sonnenaufgang an der kroatischen Küste.

Sonnenaufgang an der kroatischen Küste.

Foto: Fabian Theobald

Letzte Woche hat Theo mit seinem Fahrrad die Grenze hinein in einen blinden Fleck überquert. Mit Verlassen Italiens, seiner Fahrt über Slowenien nach Kroatien, ist er in Gebiet eingetaucht, das zuvor allenfalls an der Peripherie meines Gesichtsfeldes existierte. Ich kann mich irren, doch meine ich, es geht nicht nur mir so: Unser Blick auf das Europa jenseits der östlichen Linie von Deutschland-Österreich-Italien, war bis vor kurzem von Unwissenheit und Vorurteilen geprägt.

Seit Theo mit seinen Reisevorbereitungen begann, hängt in unserem Flur eine große Landkarte, auf der seine geplante Route eingezeichnet ist. Ich laufe jeden Tag x-Mal daran vorbei. Trotzdem habe ich nach Russlands Angriff auf die Ukraine Tage gebraucht, zu realisieren, dass sie nicht „irgendwo im Osten“ ist, sondern von unserer Hauptstadt aus gesehen das übernächste Land. Vielleicht ist diese ausgeprägte geographische Ignoranz eine individuelle Besonderheit. Ich werde jedoch den Eindruck nicht los, dass auch die europäische Öffentlichkeit den zweitgrößten Staat Europas erst jetzt wahrnimmt – seit er, gezwungenermaßen, an „unserer“ Grenze Freiheit und Demokratie verteidigt.

Letzte Woche habe ich begonnen, mich intensiver mit der Region Mittel- und Osteuropa zu befassen. Zwar war ich mal zum Schüleraustausch in Bulgarien und habe zwei Semester in Istanbul studiert. Aber alles was zwischen diesen beiden Ländern und Deutschland lag, damit hatte ich nie zu tun. Nicht, weil ich mich nicht dafür interessiert hätte. Vielmehr war dieser Landstrich seit ich denken kann, ein Quell der Verwirrung. Das merke ich jetzt, wo ich mich damit auseinandersetze. Von der Berliner Mauer hörte ich zum ersten Mal, als sie fiel. Da war ich sieben. Ich erinnere mich an das Gefühl des Staunens. Eine Mauer und dahinter ein Land, das auch Deutschland war? Wenig später löste sich Jugoslawien auf, dann die Sowjetunion, schließlich die Tschechoslowakei. Von der Existenz dieser Länder, erfuhr ich, genau wie von der DDR: während ihres Verschwindens.

Und das ist ja nur die erste Schicht. So vieles lässt sich da entdecken, geschichtlich, politisch, geographisch, kulturell und psychologisch: Das Kosovo, dessen Status noch immer umstritten ist. Die zahlreichen Ethnien, nicht nur, auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Politische Kunst. Prachtvolle Städte wie Prag, Budapest und – noch – Odessa. Offene Wunden, die bis heute nachwirken – aus Kämpfen, Kriegen, Genoziden, der letzten 100 Jahre und davor. Hauptschauplatz der Shoah war das östliche Europa. Dort haben die Nazis die überwiegende Mehrheit der europäischen Juden ermordet, eine reichhaltige Kultur für immer ausgelöscht.

In einem Essay zur Ukraine schreibt die Autorin, Oksana Sabuschko, auf bpb.de, über die Lebendigkeit dieser jungen Demokratie, die Vielfalt und friedliche Koexistenz der Sprachen und Kulturen. Gleichzeitig ruft sie dazu auf, gemeinsam „Licht in die finsteren Kellerecken Europas zu bringen“. Nur, wenn es sich mit seinen „Leichen im Keller“ beschäftige, habe Europa eine Chance weiter Einfluss zu üben.

 Radweg in den Osten: Auch Slowenien ist Teil der EU.

Radweg in den Osten: Auch Slowenien ist Teil der EU.

Foto: Fabian Theobald

Wenn also mein Partner, Theo, nun mit dem Rad einen kleinen Teil Osteuropas erkundet, erhoffe ich mir davon, die Möglichkeit, ein wenig Licht auf diesen Flecken Erde zu werfen, ihn aus dem Schatten in mein Blickwelt zu rücken. Es ist eine Art Bildungsreise vom Wohnzimmer aus. Je mehr dabei mitmachen, desto heller wird es.

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