Serie Barrierefreies Saarbrücken Wenn ein Blinder uns die Augen öffnet

Saarbrücken · Bei einem Spaziergang zeigt Michael Klingler, wie ein Blinder sich in Saarbrücken zurechtfindet. Viele, denen er begegnet, denken nicht mit.

Nichts weist Blinde darauf hin, dass die Stufen am Willi-Graf-Ufer geradewegs in die Saar führen, wie Michael Klingler hier zeigt.

Nichts weist Blinde darauf hin, dass die Stufen am Willi-Graf-Ufer geradewegs in die Saar führen, wie Michael Klingler hier zeigt.

Foto: Rich Serra

Zu viel Kopfsteinpflaster, zu wenig bezahlbarer Wohnraum – bei der Barrierefreiheit gibt es in Saarbrücken noch Stolpersteine. Was heißt Barrierefreiheit? Und wo liegen die größten Probleme? Die SZ hat sich in der Serie „Barrierefreies Saarbrücken“ mit diesen Fragen beschäftigt, Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag begleitet und sich Problemfälle angeschaut. Im heutigen Teil haben wir Michael Klingler bei einem Spaziergang durch die Saarbrücker Innenstadt begleitet und festgestellt: Blinde leben gefährlich, und Menschen können ziemlich ignorant sein – auch die Polizei.

Der Motor eines Busses rattert. Jugendliche streiten, jemand weint – Michael Klingler steigt an der Saarbrücker Europa-Galerie vor einem bekannten Schnellimbiss aus dem Bus Nummer 105. Er klappt einen weißen Stock aus, seinen faltbaren Blindenstock. Der 47-Jährige ist mit einer Augenkrankheit zur Welt gekommen. Wenn die Lichtverhältnisse gut sind, kann er einen winzigen Ausschnitt genau vor sich noch gerade so erkennen. Mehr nicht. Deshalb pendelt er den weißen Stock vor seinem Körper von links nach rechts, von rechts nach links. Das bewegliche Ende tastet den Boden ab. Es rattert rhythmisch.

Nach wenigen Metern findet der Stock die parallel verlaufenden schmalen Rillen des Blindenleitsystems. Das soll es blinden und sehbehinderten Menschen ermöglichen, sich mithilfe eines Blindenstocks selbstständig im öffentlichen Raum, in Gebäuden und an Bushaltestellen zu bewegen. Ziemlich dicht führt es Michael Klingler an den ein- und ausfahrenden Bussen vorbei. „Nicht besonders optimal, aber es geht“, sagt er. Als das Rattern etwas dumpfer wird, ist seinen geübten Ohren klar, hier muss ein Hindernis sein: ein Betonpfeiler. Sein größter Feind jedoch: bewegliche Hindernisse, Mülltonnen etwa. Die stehen nämlich nie am selben Platz.

Das tastbare Blindenleitsystem soll es blinden und sehbehinderten Menschen ermöglichen, sich selbstständig zu bewegen.

Das tastbare Blindenleitsystem soll es blinden und sehbehinderten Menschen ermöglichen, sich selbstständig zu bewegen.

Foto: Rich Serra

Ein paar Menschen gehen ihm aus dem Weg. Andere denken gar nicht daran und warten ab. Weichen im letzten Moment auf den Millimeter genau aus, um nur gerade so die Kollision zu vermeiden. Bloß keine Bewegung zu viel, so scheint es. Michael Klingler geht selbstbewusst weiter. Das muss er auch, sagt er. „Viele juckt es sonst einfach nicht.“ In welche Richtung es jetzt zur Fußgängerzone geht? „Da wo es lauter ist“, sagt er und biegt nach rechts ab. Auf dem Weg hinunter entlang der Europa-Galerie gibt es kein Leitsystem. Dennoch kann er sich hier an unterschiedlichen Bodenbelägen orientieren. Leise klimpern Löffel in Porzellantassen. „Links müssten jetzt Cafés sein.“ Stimmt. „Es ist schon auffällig, wie wenig Leute von sich aus Hilfe anbieten. Die denken, ich kann ja fragen, wenn ich Hilfe brauche. Das Problem ist nur“, sagt Klinger, „ich sehe die Leute ja nicht, wenn die still an mir vorbeigehen.“ Wenn er einen Eingang sucht, wenn er das Leitsystem nicht findet, dann wünscht er sich manchmal, dass ihn einfach mal jemand anspricht: „Entschuldigung, Sie sehen vermutlich schlecht, kann ich Ihnen helfen oder Ihnen was zeigen?“ Miteinander reden ist das A und O des Zusammenlebens, sagt der Zollmitarbeiter.

Ob er tatsächlich allein hier unterwegs ist? „Ja klar, wenn ich meiner Frau eine Überraschung schenken möchte, nehme ich die ja nicht mit zum Juwelier, oder Blumenladen“, sagt der Vater von drei Kindern.

Kontinuierlich pendelt der Stock. In Höhe des Brunnens, vor dem Eingang der ehemaligen Bergwerksdirektion bleibt er stehen. Lautes Stimmengewirr, Kindergeschrei. Die Sonne hat viele Menschen ins Freie gelockt. Auf dem Boden zeichnet sich die Silhouette der Häuserwand ab. Den starken Kontrast des Schattens auf den hellen glatten Platten kann er wahrnehmen. Für ihn das Zeichen, links abzubiegen. „Jetzt müsste gleich die Ampel kommen.“ Und dann ist auch schon ein monotones Tocken zu hören. Die Ampel ist rot. Mit dem Stock ertastet er sie. Hinter dem gelben Taster verbirgt sich aber noch mehr als nur die Information, stehen zu bleiben. Er fasst unter den Kasten, bis seine Finger einen Pfeil finden: „Der gibt mir die Richtung an, in die ich laufen muss. Manchmal verlaufen die Übergänge ja auch schräg.“ Außerdem kann der Pfeil auch auf mögliche Zwischeninseln hinweisen. Als das grüne Ampelmännchen aufleuchtet, wechselt das Tocken in ein schnelles Piepen, und der Pfeil vibriert. Das weiße Ende des Stockes fängt wieder an zu pendeln. „Das hier ist eine schöne Stelle für Rollstuhlfahrer, weil es hier keine Kante gibt“, sagt Klingler. „Für Blinde ist das gefährlich. Die kann man schon mal überlaufen.“

 Der Pfeil an der Unterseite der Blindenampel zeigt in welche Richtung die andere Seite der Straße liegt.

Der Pfeil an der Unterseite der Blindenampel zeigt in welche Richtung die andere Seite der Straße liegt.

Foto: Rich Serra

Ein Leitsystem gibt es auf der anderen Straßenseite zwar noch immer nicht, aber eine Regenrinne. Die tut es zur Not auch. „Zumindest, wenn es nicht regnet.“ Und wenn gerade keine Baustelle mitten auf der Rinne steht. Michael Klingler bleibt deshalb kurz stehen. Von hinten nähert sich ein Polizeiauto. Als sich der Wagen mit zwei Polizisten direkt hinter dem Mann befindet, schießt aus dem Nichts ein ohrenbetäubendes Quietschen aus den Außenlautsprechern des blauen Wagens. Michael Klingler zuckt zusammen. „Das war jetzt aber nicht nett“, ruft er den langsam vorbeifahrenden Beamten durch das offene Fenster zu. Die fahren einfach weiter. Michael Klingler schüttelt den Kopf und geht weiter.

Bis zum Rabbiner-Rülf-Platz. Als die Stadt ihn vor einigen Jahren baute, bekam er ein vorbildliches Leitsystem. Neben den Rillen gehören dazu verschiedene Erkennungsplatten. Die viereckigen Felder haben keine Rillen, sondern Noppen und zeigen beispielsweise Richtungswechsel an. Wo sie hinführen, zur Toilette, zur Bushaltestelle, zum Saarufer, das trainieren Sehbehinderte mit dem sogenannten Mobilitäts- und Orientierungstrainer. „Auf Wegen, die man häufig geht, zur Arbeit, zur Apotheke, da muss man sich auskennen lernen.“ Die Bushaltestelle am Rabbiner-Rülf-Platz hat eine Besonderheit, die es noch nicht allzu häufig gibt: Klingler drückt auf einen Knopf, und eine Computerstimme sagt: „Es ist 15.15 Uhr, die nächsten Busse sind:…“ Eine große Hilfe. Dass dort in Blindenschrift auf die Ansage hingewiesen wird, kann Michael Klingler jedoch nicht mehr ertasten. Die kleinen Noppen wurden teilweise abgekratzt. „Vandalismus ist echt ein Problem“, sagt er. Ein Einstiegsfeld, ähnlich dem der Erkennungsfelder, zeigt an, wo der Bus halten sollte. Dort stellt sich Michael Klingler hin und hebt seinen Blindenstock hoch. „Funktioniert so in zehn Prozent der Fälle.“ Oft verpasst er den Bus. Sogar auf dem täglichen Weg zur Arbeit.

Nachträglich wurde am Platz noch ein Tastmodell angebracht, deswegen ist es nicht an das Leitnetz angebunden. Mit dem Stock findet er es trotzdem. Dort sind die Bushaltestelle, die Stufen zur Saar und sogar die 40 Baumstämme des Gedächtniswaldes zu ertasten. Er macht sich auf den Weg zum Saarufer. Die Treppenstufen sind für ihn eine einzige Fläche,Ton in Ton, kein Kontrast. Ohne ein Geländer würde er stürzen. Am Handlauf hangelt er sich entlang, bis sein Stock den Rücken eines jungen Mannes trifft. „Entschuldigung, darf ich mal?“, fragt Klingler. Der Mann guckt verdutzt, rückt zunächst nur wenig zur Seite, bevor er doch aufsteht und Klingler vorbeilässt. „Gelernt hat er nichts, er sitzt wieder genau am Geländer, stimmt‘s?“ Stimmt. „Die Leute sitzen oder stehen oft auf dem Leitsystem, weil sie nicht wissen, was es ist.“

Er geht die Stufen weiter runter. Stopp! Er lacht. „Ich weiß, dass es hier direkt in die Saar geht. Aber das Leitsystem sperrt hier nicht. Ich warte nur darauf, dass hier mal jemand unfreiwillig schwimmen geht.“ Nicht die einzige Falle. Er folgt dem Leitsystem in Richtung Luisenbrücke und rennt frontal in eine Stuhlreihe. Ein Café hat sich hier breitgemacht. Mitten auf dem Blindenleitsystem. „Das ist mir neu“, sagt Klingler und steht erst mal ohne Orientierung da. Was nun? Blindflug. Ausprobieren. Lotto spielen. „Ein bisschen Nervenkitzel am Tag muss sein“, nimmt er es ziemlich gelassen.

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