Interview „Die Zukunft der Oratorienchöre ist nicht rosig“

SAARBRÜCKEN · Die Leiterin des Saarbrücker Oratorienchors über die Herausforderungen ihrer Arbeit. Sonntag Adventskonzert in der Ludwigskirche.

 Chorprobe des Oratorienchors unter Leitung von Annemarie Ruttloff (rechts mit roter Jacke). Am Sonntag steht ein ambitioniertes Konzert mit Bach-Werken in der Ludwigskirche auf dem Programm.

Chorprobe des Oratorienchors unter Leitung von Annemarie Ruttloff (rechts mit roter Jacke). Am Sonntag steht ein ambitioniertes Konzert mit Bach-Werken in der Ludwigskirche auf dem Programm.

Foto: Krämer/Kerstin Krämer

  Unter dem Motto „Festliches Adventskonzert mit Werken von Johann Sebastian Bach“ lädt der Oratorienchor Saarbrücken am Sonntag, 1. Dezember, um 17 Uhr in die Ludwigskirche. Wir sprachen mit Kirchenmusikdirektorin (KMD) Annemarie Ruttloff, der Leiterin des Oratorienchors – sie hat an dem Abend die künstlerische Gesamtregie.

Frau Ruttloff, Ihr wievieltes Adventskonzert mit dem Oratorienchor Saarbrücken in der Ludwigskirche ist das, und was schätzen Sie an der Ludwigskirche als Konzert-
raum besonders?

Annemarie Ruttloff: Der Oratorienchor hat aufgrund einer Verabredung mit anderen Saarbrücker Konzertveranstaltern seit Jahren seinen Aufführungstermin (Jour fixe) am zweiten Novembersonntag. Daher sind Adventskonzerte des Chores eher selten. Schon seit 1980 habe ich freilich alljährlich mit meiner Bübinger Kinder- und Jugendkantorei Adventskonzerte in der Ludwigskirche gegeben. Später, in meiner Zeit als Kreiskantorin, fanden hier viele zentrale kirchenmusikalische Veranstaltungen statt. Die Ludwigskirche hat sich als Konzertkirche etabliert und wird inzwischen in einem Atemzug mit dem Hamburger Michel und der Dresdener Frauenkirche genannt.

An dem komplett Bach gewidmeten Abend zu hören sein werden sein Magnificat D-Dur BWV 243, das seinerzeit zu Weihnachten in der Leipziger Thomaskirche erklang, und die Kleine Messe A-Dur BWV 234. Was bewog Sie zu dieser Programmauswahl?

Annemarie Ruttloff: Nachdem wir in den vergangenen Jahren viel romantische und klassische Literatur gesungen haben, habe ich dem Chor eine „stimmliche Entschlackungskur“ verordnet – bei unserem Osterkonzert stand auch ausschließlich Bach auf dem Programm. Für das Singen von Barockliteratur brauchen wir eine helle, obertönige, schlanke Tongebung, die Geläufigkeit der Stimme für die Koloraturen und unbedingte rhythmische Präzision. Das „Magnificat“ habe ich ausgesucht, weil es in Saarbrücker Konzerten selten zu hören ist und weil ich das Werk liebe, besonders das überirdisch schöne „Suscepit Israel“ und die kraftvollen koloraturgespickten fünfstimmigen Chöre, die eine echte Herausforderung sind. Die A-Dur Messe gehört zur Gattung der Missae breves und enthält nur zwei der klassischen fünf Teile der Messe-Liturgie: Kyrie und Gloria. Auch dieses Werk ist selten zu hören und erfordert instrumentale und vokale Virtuosität.

Zur instrumentalen Unterstützung haben Sie das Saarländische Barockensemble auserkoren.

Annemarie Ruttloff: Das Barockensemble wurde 2007 von freischaffenden Musikern und Mitgliedern des Saarländischen Staatsorchesters gegründet mit dem Ziel, Musik des Barock in historisch informierter Aufführungspraxis auf Originalinstrumenten beziehungsweise originalgetreuen Kopien zu präsentieren. Das Ensemble gastiert regelmäßig in Kammerkonzerten des Staatstheaters, bei Tamis und anderen Festivals in Deutschland und Frankreich.

Bitte sagen Sie ein paar Worte zum Oratorienchor Saarbrücken, der bald sein 35-Jähriges feiern kann. Wie ist der Einzugsbereich, das Altersspektrum der Sängerinnen und Sänger? Wie funktioniert das Miteinander von Routiniers und Laien?

Annemarie Ruttloff: Der Oratorienchor ist ein ökumenischer und überregionaler Chor. Die Mitglieder kommen auch aus Frankreich und der Schweiz, das Altersspektrum reicht von 25 bis 75 Jahre. Sie sind in der überwiegenden Anzahl ambitionierte Laien mit langjähriger Chorerfahrung oder Musiker. Allen gemeinsam ist die Freude an ernsthafter und konzentrierter Arbeit. Es wird selbstverständlich akzeptiert, dass „Routiniers“ weniger Proben brauchen und daher nur zu den Intensivproben kommen, besonders wenn sie lange Anfahrtswege haben.

Was waren wichtige Projekte des Chors?

Annemarie Ruttloff: Der Chor veranstaltet jährlich ein bis zwei große Oratorienkonzerte mit Musikern des Staatstheaters oder der Deutschen Radio Philharmonie. Aufführungen sind traditionsgemäß in großen Saarbrücker Kirchen, waren aber auch etwa in Metz, Neustadt und Ratingen im Rheinland. Auf dem Programm standen Werke von Bach, Händel über Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Fanny Hensel bis Brahms, Dvorák, Fauré und Max Bruch.

Wie viel Probenzeit erfordert ein solch anspruchsvolles Programm wie nun das Adventskonzert?

Annemarie Ruttloff: An diesem Projekt proben wir seit April jeden Dienstagabend. Außerdem haben wir drei Ganztagsproben. Ich erwarte von den Choristen, dass sie sich zuhause vorbereiten, und gebe „Hausaufgaben“ auf.

Als Chorchefin, Gesangspädagogin, Dozentin und ehemalige Kreiskantorin, nach vielen Jahrzehnten Erfahrung mit Scharen von Sängerinnen und Sängern, können Sie die Situation in der Chorlandschaft sicherlich bestens einschätzen: Wie schaut es aus mit Nachwuchs, wie lassen sich junge Leute motivieren?

Annemarie Ruttloff: Meiner Meinung nach gibt es nur eine nachhaltige Methode: solide Aufbauarbeit, eine Art Singschule. Im Kindergarten mit der musikalischen Früherziehung und dem Spatzenchor beginnen, danach Kinderchor, Jugendchor, Vokalensemble. Ich habe dies in meiner 42-jährigen Tätigkeit so gemacht und profitiere noch immer von dieser kirchenmusikalischen Kinder- und Jugendarbeit. Gute Erfahrungen habe ich auch mit Veranstaltungen zum Mitsingen, etwa Bachkantaten oder Weihnachtsoratorium zum Mitsingen.

Sind die Damen nach wie vor sangesfreudiger als die Herren?

Annemarie Ruttloff: Ja, die Damen sind in der Überzahl und sangesfreudiger. Ich glaube, das liegt neben vielen anderen Faktoren auch daran, dass die jungen Männer, wenn sie nicht während der Zeit des Stimmbruchs (ich sage „Stimmrutsch“) gesungen haben, ihre Stimme ganz neu finden müssen.

Wie sehen Sie die Zukunft solcher Sangesensembles wie des Oratorienchors?

Annemarie Ruttloff: Die Zukunft der Oratorienchöre ist meiner Meinung nach nicht rosig, und das nicht nur aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten. Ohne Förderverein ist an oratorische Aufführungen nicht zu denken. Sänger kann man am ehesten durch die Literaturauswahl oder andere Alleinstellungsmerkmale, beispielsweise durch eine sehr gute Stimmbildung, oder Aktionen, die den Zusammenhalt des Chores stärken, gewinnen. Wichtig sind auch die Atmosphäre während der Chorprobe und der respektvolle Umgang des Chorleiters mit seinen Sängerinnen und Sängern.

 Oratorienchor, Leitung Annemarie Ruttloff, Saarbrücken, Ludwigskirche

Oratorienchor, Leitung Annemarie Ruttloff, Saarbrücken, Ludwigskirche

Foto: Chor

Worauf dürfen wir uns nun beim Konzert freuen? Worauf legen Sie Wert bei der Bach-Wiedergabe, was soll der Hörer mit nachhause nehmen?

Annemarie Ruttloff: Neben dem historisch informierten Singen lege ich Wert darauf, dass Wort und Musik sowie der Affekt eines Textes adäquat vermittelt werden. Wenn wir geistliche Texte singen, haben wir Anteil an der Verkündigung des Evangeliums. Das Wort Gottes in Musik verpackt berührt nicht nur den Verstand der Menschen, sondern vornehmlich Herz und Seele. So wünsche ich mir, dass die Zuhörer die Kraft der Texte spüren und in vorweihnachtlicher Stimmung das Konzert verlassen. Möge sich erfüllen, was Martin Luther so schön in Worte gefasst hat: „Es fließt mir das Herz über vor Dankbarkeit gegen die Musik, die mich so oft erquickt und aus großen Nöten errettet hat.“

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