Kolumne Wer verstehen will, muss fühlen

Auf der Suche nach Erkenntnis bekommt jeder einen Schafbock in die Rippen. Dann heißt es aufstehen und weitermachen.

Als ein Freund über den Weidenzaun stieg
Foto: SZ/Robby Lorenz

Wer die Welt verstehen will, muss mitunter außergewöhnliche Wege beschreiten, und man staunt, wie viele Leute es gibt, nicht am Gartenzaun Halt gemacht haben. Der britische Autor Robert MacFarlane tauchte in die eiskalten Fluten der Isle of Skye, hielt sich am Grund mit einer Hand an einer Felsennase fest und legte seinen Körper kopfüber in die sanfte Strömung, die ihn sachte zur Seite legte – um Wildnis zu finden – wobei ich glaube, dass seine verbrachten Tage und Nächte in vermeintlich schnöden Hohlwegen im englischen Hinterland noch viel, viel mehr über seine Leidenschaft auf seiner Suche verraten. Ein Mann namens John Wolseley, übrigens ein Freund eines Freundes von MacFarlane, entwickelte eine wahre Besessenheit von Dünen, so dass er neun Monate in der Simpsonwüste in Australien verschwand, um den Sand zu beobachten. Der Biologe D’Arcy Wentworth Thomspon ließ nicht locker zu erklären, dass die gesamte Welt durch die Form der Spirale durchzogen sei, selbst ein Biberzahn mit seiner Wölbung. Und der Fotograf Kevin Griffin schnallte sich mit Vorliebe eine Kamera vor die Brust und stellte sich in die Brandung des Atlantiks in der Dun Loughan Bay vor Galway, Irland, weil er von Wellen so fasziniert war, dass er ganz nah ran kommen wollte. Ganz nah. Und dafür nahm er mehrere Rippenbrüche in Kauf und ertrank beinahe. Mehrmals.

Ich kann nach den vielen Jahren nicht mehr sagen, welchem Drang damals ein Freund von mir gefolgt war, als wir an einem Zaun vorbeikamen, der ihn nicht aufhalten konnte. Aber er entwickelte in diesem Moment ein unbändiges Verlangen nach Schafen und kletterte über den Stacheldraht, während die Tiere ihm dabei total unbeeindruckt zusahen. Sie machten keine Anstalten, in aller Panik auseinander zu brechen, was vielleicht das Ziel meines Freundes war, sondern standen ganz ruhig da. Wir waren noch jung, da macht so was Spaß.

Als mein Freund bis auf ein paar Meter an sie herangekommen war, fasste sich der Bock ein Herz und rannte ihn, wie von einem Hohlweg geleitet und ohne Spiralen, um. Rippen gebrochen? Keine. Im Wasserbottich fast ertrunken? Nein. Aber das war’s dann auch gewesen. Kein neuer Versuch. Mein guter Freund hätte ein weltberühmter Schafologe werden können. Ich finde, er hätte wieder ganz nah heranlaufen sollen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Mehrmals.

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