Altschulden-Desaster Warum Saarbrücken in Berlin kämpfen muss

Allianz der Empörten: Seit 2015 gehört Saarbrücken zum „Bündnis für die Würde unserer Städte“. Die 70 Partner werden von insgesamt 50 Milliarden Altschulden blockiert. Die SZ fragte Bürgermeister Ralf Latz, wie das im Alltag der Bevölkerung spürbar wird.

 Sie hatten den Eindruck, dass ihre Politiker-Kollegen im Berliner Bundestag ihnen bis dahin nicht vernünftig zugehört hatten. Also demonstrierten Bürger- und Oberbürgermeister aus dem Bündnis am 24. Februar 2015 in Berlin vor dem Bundestag. Oberbürgermeisterin Charlotte Britz stand mit dem Saarbrücken-Schild unterhalb des dritten Regenschirms von rechts.

Sie hatten den Eindruck, dass ihre Politiker-Kollegen im Berliner Bundestag ihnen bis dahin nicht vernünftig zugehört hatten. Also demonstrierten Bürger- und Oberbürgermeister aus dem Bündnis am 24. Februar 2015 in Berlin vor dem Bundestag. Oberbürgermeisterin Charlotte Britz stand mit dem Saarbrücken-Schild unterhalb des dritten Regenschirms von rechts.

Foto: Walter Schernstein / Stadt Mülheim

Herr Latz, in Ihrer Eigenschaft als Bürgermeister und Finanzdezernent vertreten Sie Saarbrücken im „Bündnis für die Würde unserer Städte“, zu dem ja auch Völklingen gehört. Sie sind sogar einer der vier Sprecher der Allianz. Was ist das für ein „Verein“, was will er, und was hat Saarbrücken damit zu tun?

Ralf Latz: Wir sind in diesem Bündnis mit 70 Städten. Es geht um 50 Milliarden Altschulden und um 10 Millionen Bürger. Wir versuchen, in Berlin eine Lobby aufzubauen. Wir wollen erreichen, dass Bund, Länder und Kommunen endlich das Altschulden-Problem lösen – und wir wollen erreichen, dass der Bund die Sozialkosten, insbesondere die Kosten der Unterkunft, künftig nicht mehr einfach nach unten an die Kommunen durchreicht.

Über diese Praxis des Bundes klagten in den Medien schon Generationen von Bürger- und Oberbürgermeistern vor Ihnen, ohne dass jemand zuhörte. Offenbar nicht mal die eigenen Parteifreunde in Berlin. Wer kam auf die Idee, gemeinsam zu jammern?

Latz: Das Bündnis gibt es seit 2009. Es entstand in Nordrhein-Westfalen. Saarbrücken ist seit vier Jahren dabei. Bevor das Bündnis entstand, hat sich in Berlin offenbar niemand für die Altschulden der Kommunen interessiert. Inzwischen haben wir in Berlin verhandelt unter anderem 2017 mit dem damaligen Kanzleramtsminister Peter Altmaier und mit den Finanzexperten der Bundestagsfraktionen. Wir haben sogar Debatten im Bundestag (2016) und im Bundesrat (2017) über das Altschulden-Problem angestoßen. Ein Ergebnis war, dass man im Bundesinnenministerium im September 2018 eine Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ gegründet hat. Die soll noch in diesem Juni erste Ergebnisse vorlegen. Der Ministerpräsident von Nordrheinwestfalen, Armin Laschett, hat uns Unterstützung zugesagt – genau wie Klaus Bouillon, als er 2017 Sprecher der Innenministerkonferenz war.

Selbst das Bündnis kämpfte also schon sieben Jahre um Gehör, bevor das Schulden-Desaster erstmals Thema im Bundestag wurde. Warum hat das so lange gedauert?

Latz: Vielleicht war den Bundespolitikern bisher das eigene Hemd näher als die Probleme der Kommunen. Bevor sich die Städte zusammengetan haben, war es leicht, einfach zu sagen, das ist das Problem der jeweiligen Stadt – und so darüber hinwegzugehen, dass es ein strukturelles Problem ist.

Was unterscheidet ein „strukturelles Problem“ von einem normalen?

Latz: Alle Kommunen, die mit den sozialen Folgen von wirtschaftlichen Veränderungen zu kämpfen haben, müssen für etwas bezahlen, das bundesweit greift. Aber die Leidtragenden, vor allem die Langzeitarbeitslosen, werden nicht vom Bund, sondern mit dem Geld der Kommunen aufgefangen. Saarbrücken ist dafür ein Musterbeispiel. Durch das Ende von Kohle und Stahl fielen tausende Arbeitsplätze weg. Neue sind entstanden. Aber dort arbeiten nicht die Leidtragenden von damals, sondern andere Menschen. Folge ist, dass die Sozialkosten für die Leidtragenden von damals nicht sinken. Saarbrücken muss also konstant weiterbezahlen - für die Folgen einer bundesweiten Entwicklung.

Und wenn neue Firmen neue Arbeitsplätze bringen? Hilft das nicht?

Latz: In Saarbrücken sind seit 2010 rund 10 000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden. Aber das, was Saarbrücken durch die neuen Arbeitsplätze als Anteil von der Einkommenssteuer und an Gewerbesteuer einnimmt, reicht bei weitem nicht, um die weiterlaufenden Sozialkosten für die Leidtragenden von damals auszugleichen. Und es kann doch nicht sein, dass 70 Städte allein dafür zuständig sind, die Folgen des ökonomischen Wandels in der ganzen Bundesrepublik aus den 80er und 90er Jahren zu bezahlen.

Aber im Juni 2019 will das Bundesinnenministerium ja nun schon einen Lösungsvorschlag für die Folgen der Probleme aus den 80er Jahren machen. Glauben Sie daran?

Latz: Im Juni werden wir sehen, ob die Bundesregierung tatsächlich Wort hält. In Saarbrücken ist das Problem jedenfalls akut und wächst sogar noch. Denn in den Gegenden, wo sich die Probleme ballen – da wo die Leidtragenden von damals mit ihren Familien leben – da muss die Kommune nicht nur die Sozialkosten für die Langzeitarbeitslosen stemmen. Um den Menschen Halt zu geben, muss die Kommune vielfältige Formen von Sozial- und Bildungsarbeit finanzieren. Saarbrücken hat da in den letzten Jahren viel getan. Zum Beispiel haben wir den Anteil der echten Ganztagsgrundschulen von 2 auf 6 verdreifacht. Und wir haben an diesen Schulen Kinderbildungszentren eingerichtet, deren Personal im Wesentlichen von der Stadt finanziert wird. Während das Land die Lehrer bezahlt. Außerdem wird Saarbrücken bis 2024 rund 90 Millionen in neue Kitas und Schulen investieren.

Das hört sich aber nicht danach an, als ob die Altschulden hier den Betrieb blockieren würden?

Latz: Hätten wir die Altschulden nicht, dann hätten wir all solche Projekte viel schneller fertig, weil die Finanzierung einfacher und schneller liefe.

Das heißt also, dass die Kinder von heute in den 70 Städten gegenüber den Kindern in anderen Städten benachteiligt sind?

Latz: In den 70 Städten bezahlen die Kinder von heute noch für die bundesweiten wirtschaftlichen Veränderungen der 80er und 90er Jahre. Aber das gilt nicht nur für die Kinder. Auch Busse und Bahnen könnten wir wesentlich schneller entwickeln, attraktiver und günstiger machen, wenn wir den Altschulden-Dienst nicht hätten. Die Pläne dafür liegen in der Schublade. Andere Städte wie München, Frankfurt oder Stuttgart könnten solche Pläne sofort verwirklichen – und aus dem laufenden Etat bezahlen. In Saarbrücken geht das nicht. Wir brauchen für jedes Projekt der Stadtentwicklung Zuschüsse aus öffentlichen Kassen. Und diese Zuschüsse müssen wir uns alle zäh erkämpfen.

Was muss man sich unter „Projekten zur Stadtentwicklung“ vorstellen?

Latz: Gutes Beispiel dafür ist der Ausbau des neuen Messe- und Congresszentrums im Herzen der Stadt. Der Bund hat uns dafür 50 Millionen in Aussicht gestellt, sofern Stadt und Land gemeinsam noch einmal so viel aufbringen. Auch die Sportanlage des ATSV können wir nur sanieren, weil der Bund uns 3,4 Millionen dazulegt. Selbst für Fußballplätze brauchen wir finanzielle Unterstützung.

Und was ist mit dem sozialen Wohnungsbau? Wird der auch von den Altschulden gebremst?

Latz: Ohne Altschulden-Last könnten wir die Siedlungsgesellschaft natürlich stärker unterstützen, so dass der soziale Wohnungsbau schneller anlaufen könnte.

Was also kann die Stadt überhaupt noch tun?

Latz: Wir müssen schlau wirtschaften. Wir dürfen uns trotz allem nicht kaputtsparen. Wir müssen in die Wirtschaftsförderung investieren, damit neue Arbeitsplätze entstehen. Gute Beispiele sind der Handwerkerpark auf dem ehemaligen Heckel-Gelände – und der Eurobahnhof, dort sitzen heute 65 Firmen mit 900 neuen Arbeitsplätzen. Hätten wir die Altschulden-Last nicht, könnten wir zum Beispiel auch unseren Tourismus und damit Hotelerie und Gastronomie stärker unterstützen.

Um seine Soziallasten stemmen zu können, hat Saarbrücken ja in den letzten Jahren sowohl seine Gewerbe- als auch seine Grundsteuer erhöht (die SZ berichtete). Könnte die Stadt diese Erhöhungen rückgängig machen, wenn die Bundesregierung das Altschulden-Problem lösen würde?

Latz: Selbst wenn die Bundesregierung das Altschulden-Problem lösen würde, wäre trotzdem zunächst nicht an Steuersenkungen zu denken. Denn die Stadt muss ja im nächsten großen Schritt all die Ausgaben finanzieren, die sie braucht, um Saarbrückens Wettbewerbsfähigkeit mit den anderen Ballungszentren zu sichern.

 Als einer der vier Sprecher der Städte-Allianz schilderte Bürgermeister Ralf Latz (Zweiter von links) die Saarbrücker Probleme am 4. April 2019 vor der Bundespressekonferenz.  

Als einer der vier Sprecher der Städte-Allianz schilderte Bürgermeister Ralf Latz (Zweiter von links) die Saarbrücker Probleme am 4. April 2019 vor der Bundespressekonferenz.  

Foto: E. A. Ziegler

Was soll der Name „Bündnis für die Würde der Städte“ signalisieren?

Latz: Würdevoller Umgang zwischen Bund, Ländern und Kommunen bedeutet, dass die einen nicht Bittsteller der anderen sind. Und dass die Menschen in ihren Kommunen möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse vorfinden – so wie es das Grundgesetz in Artikel 72, Absatz 2 verlangt.

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