Experiment Harig-Roman auf Saarbrücker Theaterbühne

Saarbrücken · Bettina Bruinier und Simone Kranz präsentieren in der Sparte 4 „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ – mit dem Titelzusatz „Sulzbach“.

Wie macht man aus einem autobiografischen Roman ein Theaterstück? Wie kann es einer Schauspielinszenierung gelingen, die Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit ins Bewusstsein zu rufen und sie mit dem Hier und Heute zu verknüpfen?

Der Herausforderung theatral verdichteter Geschichtsbewältigung stellen sich Schauspieldirektorin Bettina Bruinier (Regie) und Dramaturgin Simone Kranz (Projektleitung) vom Saarländischen Staatstheater: Gemeinsam bringen sie Ludwig Harigs Roman „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ mit dem Titelzusatz „Sulzbach“ auf die Bühne der Sparte 4.

Die Uraufführung ist der zweite Teil der „Saarland Saga“, die im Januar mit der Produktion „Mettlach“ in der Alten Feuerwache ihren Auftakt hatte. Bruinier und Kranz konzentrieren sich auf zentrale Kapitel und verknüpfen sie mit filmischem und historischem Material zu einer dokudramatischen Collage.

Bei einem Probenbesuch in der Spielstätte in der Eisenbahnstraße spannen sich Schnüre wie Wäscheleinen durch die Luft, daran aufgehängt sind Flugblätter mit der Forderung „Heim ins Reich!“.

Und es fallen Sätze wie: „Ich bin doch nicht vom Hunsrück ins Saargebiet gekommen, um neutral und später Franzose zu werden!“ In dieser Szene geht es um den großen Abstimmungskampf an der Saar: Höhepunkt war die Kundgebung der antifaschistischen Einheitsfront am 26. August 1934 mit rund 60 000 Teilnehmern in Sulzbach. Diese Kundgebung war gedacht als Gegenveranstaltung zur Parade der Deutschen Front, die am selben Tag  in Koblenz auf dem Ehrenbreitstein aufmarschierte. 

Auf der Bühne agieren nur zwei Schauspieler: Fabian Gröver und Silvio Kretschmer schalten in fliegendem Rollenwechsel zwischen Erzählhaltung und gespielten Rückblenden hin und her – analog dazu, dass Harig in seinem 1990 veröffentlichten Roman selbst immer wieder die Gegenwart aufgreift und seine Perspektive reflektiert.

Harig, 1927 in Sulzbach geboren und im vergangenen Jahr verstorben, schrieb seinen Roman aus der Sicht des Erwachsenen, der rückblickend versucht, seine Indoktrination durch das NS-Regime zu begreifen: Der Druck des Umfelds machte aus ihm einen begeisterten Hitlerjungen, beseelt von dem Wunsch, Teil der faschistischen Bewegung zu werden.

Die Befindlichkeit und Verführung von Kindern und Jugendlichen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg spiegeln auch die Interviews mit Zeitzeugen, die zwischendurch eingeblendet werden. Bruinier und Kranz haben nicht nur vor Ort recherchiert, mit dort ansässigen Menschen anderer Kulturen geredet und Grundschüler Szenen filmisch nachstellen lassen, sondern auch den Dialog mit Senioren gesucht, die das alles selbst miterlebt haben.

„Das sind Ängste, die man nie vergisst!“ fasst die 1935 in Saarbrücken geborene Carola Kleinbauer im Gespräch mit unserer Zeitung ihre Kindheit zusammen. Bei ihr haben vor allem persönliche Drangsalierungen und das Gefühl des ohnmächtigen Ausgeliefertseins Spuren hinterlassen. Die Abwesenheit des arbeitsverpflichteten Vaters während der Evakuierungen 1939 und 1944; die Hilflosigkeit der fast erblindeten Mutter, der sie den Alltag bewältigen half; aus nichtigem Anlass prügelnde Lehrer, antisemitische Übergriffe im direkten Umfeld, Kälte, Hunger: „Das hat mich viel mehr geprägt als die eigentliche Kriegszeit“, sagt Kleinbauer. „Es hat mich zu einem sozialen Menschen gemacht. Und ich habe gelernt, davon zu erzählen.“

Halt findet sie im Gebet und Kraft in der Erkenntnis, „dass man sich wehren kann – und zwar, ohne jemanden zu beleidigen.“ Auch ihre Sympathie für Juden ist eine Konsequenz dieser Erfahrungen – eine Solidarität, die von dem gebürtigen Saarbrücker Richard Wagner geteilt wird.

Wagner, Jahrgang 1931, wuchs in einer Familie überzeugter Faschisten auf. Allein sein Name spricht Bände: Ja, er wurde tatsächlich nach dem gleichnamigen Komponisten, der musikalischen Ikone der Nationalsozialisten, benannt.

„Ich war ein reinrassiger Nazi“, sagt Wagner mit bitterem Ton in der Stimme. Der kleine Richard hatte ein Zertifikat, das seine arische Reinrassigkeit bestätigte, und er wurde in die Nationalpolitische Erziehungsanstalt (Napola) gesteckt. Damit war der ideologische Missbrauch perfekt: Der Junge gehörte unfreiwillig zur Nazi-Elite.

„Ich habe lange schwer mit meinem Schicksal gehadert“, erzählt Wagner. „Ich brauchte die Vergebung jüdischer Mitbürger.“ Diese Absolution wurde ihm zuteil. Konvertiert ist er deswegen zwar nicht, sagt aber: „Ich bin von Herzen Jude geworden.“

Den Brand der Saarbrücker Synagoge hat Richard Wagner als siebenjähriger Augenzeuge miterlebt; 30 Jahre nach der „Reichskristallnacht“ schrieb er einen persönlichen Erinnerungsbericht, den er im letzten Jahr der hiesigen Synagogengemeinde zur Verfügung stellte. „Ja“, meint Wagner grübelnd: „Ich finde in Harigs Buch viele Parallelen zu meiner Kindheit.“

Uraufführung: Freitag, 13. September, 20 Uhr, Sparte 4. Weitere Termine, Karten, Infos: Telefon 0681/3092-486.

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