One Billion Rising „Es geht darum, den Körper wieder zu spüren“

Saarbrücken · Bei „One Billion Rising“ versammeln sich Frauen überall auf der Welt, um tanzend gegen Gewalt zu demonstrieren. Psychologin Nartan Zemelko erklärt das Besondere an dieser Form des Protests.

 Fröhlich und ausgelassen – trotz des ernsten Themas: Am 14. Februar werden auch dieses Jahr im Zuge von „One Billion Rising“ wieder Frauen auf dem St. Johanner Markt tanzen, um gegen Gewalt zu protestieren. Das Bild zeigt die Demonstration von 2018.

Fröhlich und ausgelassen – trotz des ernsten Themas: Am 14. Februar werden auch dieses Jahr im Zuge von „One Billion Rising“ wieder Frauen auf dem St. Johanner Markt tanzen, um gegen Gewalt zu protestieren. Das Bild zeigt die Demonstration von 2018.

Foto: Frauennotruf

Eine Frau wird am Arbeitplatz von einem Mitarbeiter belästigt, ein Mädchen flüchtet vor seinem prügelnden Vater, eine junge Afrikanerin erleidet eine brutale Genitalverstümmelung. Diese und andere eindringliche, teils schwer erträgliche Szenen, welche die Amerikanerin Eve Ensler im Jahr 2012 zu einem Kurzfilm verarbeitete, teilen eine Gemeinsamkeit: Sie alle zeigen Gewalt gegen Frauen, die sich am Ende von ihren Peinigern losreißen und befreit zu tanzen beginnen.

Die Künstlerin rief damit zu einer Aktion auf, an der sich am 14. Februar des darauffolgenden Jahres Gruppen aus 160 Nationen in aller Welt beteiligten. Allein in Deutschland wurde in 195 Städten demonstriert – für Gleichberechtigung und ein Ende der Gewalt.

„One Billion Rising“ („Eine Milliarde erheben sich“) heißt die seither jährliche Demonstration. Die Zahl ist bewusst gewählt: Eine Milliarde – jede dritte Frau weltweit – werden laut einer UN-Statistik in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung oder schweren Körperverletzung. Von anderen Aktionen dieser Art unterscheidet sich „One Billion Rising“ durch die Form des Protests: Frauen und Mädchen sowie einige Männer versammeln sich dabei auf einem öffentlichen Platz, um gemeinsam nach einer einfachen, auch für Neulinge leicht zu erlernenden Choreographie zu tanzen – ganz wie die Frauen in Enslers Film.

Tanzen bei einem so ernsten Thema? Kein Widerspruch, erklärt Nartan Zemelko. Die Psychologin engagiert sich im Verein „Frauenmantel – Frau im Zentrum“, der „One Billion Rising“ in Saarbrücken organisiert. Neben der konventionellen Psychotherapie bietet sie in ihrer Praxis auch Tanztherapie an – eine Methode, die sich gerade bei Gewaltopfern bewährt hat. Das Video von Eve Ensler habe sie daher tief beeindruckt.

Tanzen könne für traumatisierte Menschen ein möglicher Weg sein, die erlittene Gewalt zu verarbeiten. Viele Opfer erleben ein psychologisches Phänomen, das Experten „Dissoziation“ nennen: Sie „treten aus ihrem Körper heraus.

„Im Grunde ist das eine Überlebensstrategie“, erläutert Zemelko. Betroffene distanzieren sich dabei innerlich von der Gewalt, die sie erfahren, um sie überhaupt ertragen zu können, vergessen dabei das Erlebte sogar ganz oder teilweise. „Dadurch haben sie aber auch später nur schwer Zugriff auf ihre Gefühle.“ Besonders gefährdet seien Menschen, die Gewalt durch einen Familienangehörigen erlebt haben, was laut Zemelko leider der häufigste Fall sei. 

Gerade sexuelle Gewalt spiele sich meist im Verborgenen ab. „Statistisch gesehen sitzen in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder, die missbraucht werden“, betont sie – Mädchen und Jungen. Da sich die Täter ansonsten unauffällig verhielten, wirken die Familien auf Außenstehende normal und intakt.

Gerade weil es mitunter so schwer sei, Missbrauch zu erkennen, sei es wichtig, Kindern ein gesundes Körperbewusstsein und Gespür für die eigenen Grenzen zu vermitteln. Tanzen dagegen sei eine Form der Selbst­ermächtigung, ein „Zurückerobern des Körpers“. „Dabei geht es auch darum, ihn wieder zu spüren.“

Nicht alle ihre Patientinnen seien schon so weit, öffentlich bei „One Billion Rising“ mitzutanzen. Wenn Zemelko nächste Woche auf dem St. Johanner Markt steht, sei dies daher auch ein Akt der Solidarität. „Ich und die anderen Frauen, die mitmachen, tanzen auch für diejenigen, die es nicht können“, sagt sie – und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Noch nicht.“

 Psychotherapeutin  Nartan Zemelko

Psychotherapeutin Nartan Zemelko

Foto: Aline Pabst

One Billion Rising, 14. Februar, 17 Uhr, St. Johanner Markt. Am Sonntag, 9. Februar, wird die Choreographie im Therapiezentrum Schenkelbergstraße 22 in Saarbrücken-St. Arnual geübt. Interessierte sind herzlich dazu eingeladen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort