Als Nackte - offiziell - nicht gefielen Zu viel Erotik für den Rathausplatz

Saarbrücken · Heute würde keiner mehr pikiert die Braue heben vor der weißen Marmorstatue am Fuße der Trillertreppe. „Anfang des letzten Jahrhunderts gab es aber ordentlich Verärgerung deswegen“, sagt der Wahl-Saarbrücker und ehemalige Geschäftsführer der Synagogengemeinde Saar, Marcel Wainstock.

 Marcel Wainstock vor der Telemach-Figur.

Marcel Wainstock vor der Telemach-Figur.

Foto: Mike Durlacher

Aber was stimmt mit dem Kunstwerk nicht? „Die Statue stellt den Telemach dar, der sich ein Schwert umgürtet“, sagt Wainstock. Gemütserhitzend ist das noch nicht. Doch jetzt kommt’s: „Bis auf einen Helm ist Telemach splitterfasernackt.“ Das konnte zum Problem werden, vor allem im prüden Preußen von 1902. Zumal er früher noch viel mehr Menschen mit seiner Nacktheit empören konnte. Da stand er nicht abseits, sondern zierte einen Brunnen auf dem Rathausplatz. „Griechischer Sagenheld hin oder her, den um Sittlichkeit bemühten Bürgern Saarbrückens war er ein Dorn im Auge“, beschreibt Wainstock die Reaktionen beim Bau des Brunnens. Kaum wachte der Sohn des Odysseus vor dem Rathaus, gab es laute Proteste. Die St. Johann-Saarbrücker Volkszeitung berichtete am 4. Juni 1902, dass die Statue in „alle[n] 41 Schichten der Bevölkerung sehr mißbilligend besprochen“ wurde und man sich auch um die Kinder sorgte. Telemach blieb trotzdem, zumindest so lange, bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Sie ließen den Brunnen samt dem nackten Griechen 1936 abreißen, offiziell aufgrund begrenzter Platzverhältnisse für ihre Aufmärsche vor dem Rathaus. Erst in den 1960er-Jahren kam der Telemach in den Stadtgarten. Dort war er unbeaufsichtigt, verlor Männlichkeit, einen Unterschenkel, gar den Kopf. An der Suppengassentreppe nimmt niemand mehr Anstoß an ihm. Selbst wenn er noch komplett wäre – heute würde sich vermutlich kaum ein Passant an seiner Blöße stören.

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