Interview mit Sonnenberg-Chefarzt Ulrich Seidl Borderline: Die Abspaltung von der eigenen Person

Interview · Der Chefarzt der Psychiatrie der SHG-Kliniken Sonnenberg, Priv.-Doz. Dr. med. Ulrich Seidl, über Symptome und Behandlung von Borderline-Patienten.

Borderline zeigt sich stark in persönlichen Beziehungen, erklärt Ulrich Seidl im SZ-Interview.

Borderline zeigt sich stark in persönlichen Beziehungen, erklärt Ulrich Seidl im SZ-Interview.

Foto: Robby Lorenz

Was ist Borderline genau?

Seidl Borderline hat man lange Zeit zu den Persönlichkeitsstörungen gezählt. Persönlichkeitsstörung bedeutet, dass ein Mensch zeitlebens bestimmte Auffälligkeiten hat, die ihn prägen. Das betrifft Eigenschaften wie extrovertiert oder introvertiert sein. Borderline hat man früher als eine Art Persönlichkeitstypus bezeichnet. Inzwischen sieht man es eher als eine Krankheit, die irgendwann kommen, phasenhaft verlaufen und auch wieder abflauen kann. Das hebt Borderline von den Persönlichkeitsstörungen ab. Es gibt mittlerweile auch sehr viele neurobiologische Befunde, sehr viele Untersuchungen mit modernen Verfahren, struktureller und funktioneller Art, um zu sehen, was bei Betroffenen im Gehirn passiert. Dabei fand man in der Verarbeitung von Informationen und bei Reaktionsmustern Auffälligkeiten, was weiterhin dafür spricht, dass Borderline durchaus eine neurobiologische Basis hat. Die Symptomatik hat außerdem eine ganz eigene Qualität. Die Regulation des Gefühlslebens läuft zum Beispiel hochgradig aus dem Ruder, viel mehr als man das von anderen Persönlichkeitsstilen kennt. Und es gibt möglicherweise einen Zusammenhang mit persönlichen Traumata. Die allermeisten Personen, die eine Borderline-Störung haben, hatten in der Kindheit oder der weiteren Entwicklung traumatisierende Erlebnisse.

Borderline entsteht also durch ein Zusammenspiel von Veranlagung und einem Trauma?

Seidl Genau, plus Faktor X. Man weiß einfach nicht genau, was alles eine Rolle spielt. Veranlagung und Trauma können definitiv eine große Rolle spielen, ebenso aber auch Einflüsse, die man noch gar nicht genau kennt.

Was für Traumata können das sein?

Seidl Es kommt sehr häufig vor, dass es frühe Traumatisierungen in der Kindheit sind, die über längere Zeiträume stattgefunden haben. Man unterscheidet verschiedenen Trauma-Arten, zum einen punktuelle, wie zum Beispiel einen Verkehrsunfall oder eine Naturkatastrophe oder aber eben andauernde Traumatisierungen. Und die findet man bei Borderline-Patienten immer wieder, Missbrauch zum Beispiel.

Wie sieht die Symptomatik von Borderline aus?

Seidl Ein zentraler Aspekt von Borderline ist das, was wir Affektregulationsstörung nennen. Die Betroffenen reagieren auf sehr geringe Anlässe mit stark überschießenden Gefühlsäußerungen oder sie nehmen teilweise gar kein Gefühl richtig wahr, sondern nur eine diffuse Spannung. Wenn sich jemand Gesundes über eine Situation schlicht ein wenig ärgern würde, dann ist das für einen Borderliner im Vergleich direkt ein riesiger Druck, der innerlich als enorme Spannung wahrgenommen wird. Es ist überhaupt nicht mehr regulierbar und die Betroffenen wissen überhaupt nicht mehr, wohin mit diesem Druck und greifen dann zu verschiedenen Maßnahmen, um sich zu entlasten. Die Spannung muss sich entladen. Das können aggressive Impulse sein, die nach außen gehen, viele richten es aber auch gegen sich selbst. Und dann kommt es zu den, für Borderliner typischen, Selbstverletzungen. Diese emotionale Instabilität ist aber nicht das einzige Symptom. Bei Betroffenen kommt noch das problematische Zwischenmenschliche hinzu. Borderliner haben außerdem eine ganz große Angst vor dem Verlassen werden, gleichzeitig aber ein ganz intensives Bedürfnis nach Nähe. Es werden schnell intensive Kontakte geknüpft, gleichzeitig wird diese Nähe aber als vernichtend und beängstigend erlebt. Einerseits, weil es zu dicht wird und das angst macht, gleichzeitig aber auch weil weiter diese Angst besteht, verlassen zu werden – das ist das sogenannte Borderline-Dilemma. Nichts fühlt sich wirklich gut an. Wenn kein Kontakt da ist, ist der Wunsch nach Kontakt übergroß, wenn dann Kontakt da ist, ist es aber auch nicht gut. So erlebt man dann auch den Kontakt zu den Betroffenen – ganz schnell wird eine Beziehung ganz dicht, kann aber eben auch zum Teil ganz plötzlich wieder vernichtet und abgebrochen werden. In den zwischenmenschlichen Beziehungen manifestiert sich Borderline sehr stark. Rasche Partnerwechsel und sehr extremes Verhalten, das sogar richtig selbstzerstörerisch werden kann, treten bei Betroffenen oft auf. Egal was sie aber machen, keine zwischenmenschliche Beziehung macht am Ende wirklich glücklich.

Sie hatten von Abflauen gesprochen – kann Borderline auch einfach wieder aufhören?

Seidl Früher ist man davon ausgegangen, dass Borderline immer bleibt. Mittlerweile gibt es Studien, die den Verlauf genauer betrachten und da gibt es tatsächlich Untersuchungen, bei denen die Borderline-Störung nach einigen Jahren gar nicht mehr nachweisbar ist. Es gibt eine Studie, die das nach sechs Jahren untersucht hat und bei der ungefähr drei Viertel der Patienten wieder beschwerdefrei sind.

Gibt es dementsprechend Verläufe, bei denen Betroffene gar keine Therapie brauchen?

Seidl Das ist denkbar. Viele Betroffene sind wahrscheinlich sogar gar nicht in Therapie. In diesen Fällen hängt der Verlauf dann davon ab, wie viele stützende Faktoren die Menschen in ihrem direkten Umfeld haben. Man kann durchaus davon ausgehen, dass es manche Betroffene dank dieser Faktoren durch die schweren Phasen schaffen und die Krankheit sich nach einigen Jahren vielleicht wirklich von alleine wieder erledigt.

Gibt es auch Fälle, in denen die Betroffenen ihr Leben lang mit Borderline zu kämpfen haben?

Seidl Es gibt sehr verschiedene Verläufe, natürlich auch Chronifizierungen und Menschen, bei denen die Krankheit immer wieder mal mehr und weniger relevant ist. Man hat aber eher eine Art Wellenbewegungen, also weniger gleichförmige Verläufe. Das gilt selbst für Personen, die Borderline chronisch haben – sie erleben immer wieder stärkeres Auftreten und dann wieder schwächeres.

Wie prägnant ist der Hang der Betroffenen zur Selbstverletzung?

Seidl Selbstzerstörung ganz allgemein ist bei den Betroffenen auf jeden Fall ein sehr prägnantes Symptom. Ein Grund dafür ist, dass die Betroffenen versuchen, durch destruktives Verhalten Spannungen zu lösen, typischerweise durch Schneiden in Arme oder Beine. Es kann aber auch sein, dass Drogen konsumiert werden, zum Teil auch exzessiv. Ein weiterer Aspekt der Selbstverletzung ist aber auch, dass die Betroffenen in Zustände kommen, die wir dissoziativ nennen. Das heißt, dass das Erleben wie abgespalten ist. Die Menschen spüren sich selber und die Welt nicht mehr. Vor allem werden aber auch die eigene Person und der eigene Körper nicht mehr richtig wahrgenommen. Das ist ein Phänomen, das wir auch von Trauma-Opfern kennen. Diese Art von Abspaltung kann man als seelischen Schutzmechanismus verstehen. Und auch in solchen Fällen kommt es häufig zu Selbstverletzung, damit die Betroffenen sich wieder spüren. Sie sind zum Teil wie betäubt und brauchen ganz starke Schmerzreize, um sich überhaupt wieder wahrzunehmen und in der Realität zu landen. Selbstverletzung ist also typisch, man muss aber aufpassen, dass man nicht jeden, der sich selbst verletzt, als Borderliner abstempelt. Wir haben zum Beispiel das Phänomen, dass Selbstverletzungen als Teil der Jugendkultur auftreten. Ganz schwere Formen von Selbstverletzungen können auch bei Schizophrenen auftreten und die haben wieder komplett andere Gründe. Nicht jeder, der sich selbst verletzt, ist ein Borderliner.

Wie schwierig gestaltet sich die Behandlung?

Seidl Insgesamt gesehen ist Borderline schwer zu therapieren, weil es sehr viel Fachwissen sowie ein ganz klares Konzept und eine klare Herangehensweise braucht. Was sich sehr gut bewährt hat, ist die Dialektisch-Behaviorale Therapie. Dabei therapiert man die Betroffenen in einem ganz stark standardisierten Programm, das genau auf die Bedürfnisse ausgerichtet ist, und versucht gezielt, Fähigkeiten und Fertigkeiten beizubringen. Zum Beispiel, wie sie es schaffen, sich selbst zu regulieren. Und vor allem, wie sie das schaffen, ohne sich selbst zu schaden. Man findet da Alternativen. Das betrifft auch den zwischenmenschlichen Bereich. Die Betroffenen müssen ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten weiter entwickeln. Und lernen, die eigenen Bedürfnisse auf eine Art und Weise zu befriedigen, ohne dass sie dabei ihre persönlichen Beziehungen ruinieren.

Wie bringt man das den Leuten bei?

Seidl Das Therapieprogramm ist sehr spezialisiert und man braucht dafür speziell ausgebildete Therapeuten. Es ist gestuft aufgebaut. Zuerst erklärt man den Betroffenen die Störung, vermittelt Verständnis und dann werden nach und nach entsprechende Fähigkeiten trainiert. Die Schritte werden immer wieder mit den Patienten reflektiert. Hier im Sonnenberg bieten wir das auch an. Es gibt eine Vorbereitungsphase, dann eine stationäre Phase, dann eine teil-stationäre Phase sowie eine Nachbereitung. Wenn jemand entsprechend motiviert ist, dauert das Programm üblicherweise 13 Wochen. Ziel einer Therapie ist immer eine deutliche Symptomreduktion, konkret Spannungsreduktion oder weniger Selbstverletzung. In den allermeisten Fällen gelingt das auch sehr gut.

Was beinhaltet die Therapie abgesehen davon?

Seidl Vor allem Einzelgespräche und Gruppentherapien, aber auch das, was man klassischerweise als Fachtherapien anbietet: Ergotherapie, Physiotherapie, also Bewegung und Sport. Einzel- und Gruppentherapie sind aber die zentralen Punkte.

Erkennen Betroffene ihre eigene Krankheit?

Seidl Das ist sehr unterschiedlich, generell gibt es bei den Betroffenen meistens schon einen sehr hohen Leidensdruck. Dass man das wirklich als Krankheit erkennt, ist ein Prozess, für viele ist es aber entlastend, weil dann klar wird: „Ich bin da nicht schuld dran.“ Es ist kein Versagen, sondern etwas, das einen Namen hat. Man weiß dann, warum man so extrem ist und kann sich leichter auf eine Therapie einlassen.

Erkennt man die Krankheit erst am Punkt der Selbstverletzung oder kommen die Leute oft auch schon vorher zu Ihnen in die Klinik?

Seidl In die Klinik kommen die Menschen meistens nur im Rahmen von akuten, krisenhaften Zuspitzungen, bei denen es dann oft um suizidales Verhalten geht. Auch das ist ein wesentlicher Aspekt von Borderline: Die Selbstzerstörung kann so weit gehen, dass es zur Suizidalität kommt. Wir machen dann eine Krisen-Intervention und gehen nicht direkt in das genannte Programm. Dazu muss man jemanden vorbereiten, entsprechend die Motivation prüfen und es müssen Vorgespräche stattfinden. Es bedarf guter Planung. Wir machen auf dem Sonnenberg beides, Krisen-Intervention und das lange, spezialisierte Programm. Die Krisen-Situationen entstehen typischerweise nach Trennungen, Enttäuschungen oder sonstigen Ereignissen, bei denen die Betroffenen überfordert worden sind.

Was bewirken die Krisen-Situationen bei den Betroffenen?

Seidl Einerseits entsteht dadurch eine riesige Überforderung. Ein typisches Beispiel ist eine Trennung. Die Menschen wissen gar nicht mehr weiter. Das Ereignis ist für sie die größte Katastrophe und sie reagieren dann innerlich meist auch sehr kindlich. Sie fühlen sich völlig ausgeliefert und hilflos, wie ein Kind bei dem die Eltern weg sind. So kann man sich einen Borderline-Menschen vorstellen. Gleichzeitig kommt dann vielleicht auch der Gedanke, dass es eh alles keinen Sinn macht. Der Gedanke, dass es wieder anders sein könnte, existiert nicht. Für den Moment sind sie überwältigt von den Gefühlen, der Spannung und dem Gedanken „Alles ist vorbei.“ Wenn diese Situation dann mit der typischen Selbstabwertung gepaart ist, die Borderliner häufig an den Tag legen, kann es so zum Suizid kommen.

Ist der typische Borderline-Patient sozial isoliert?

Seidl Nein, eigentlich nicht. Es sind häufig problematische Beziehungen, aber isoliert sind sie nicht unbedingt. Sie fühlen sich vielleicht innerlich nur so. Haben also einen Freundeskreis und denken trotzdem, dass sie alleine da stehen. Borderliner sind typischerweise nicht die, die sozial randständig sind. Es sind eher jüngere Menschen, die wir als Patienten haben und die haben dann schon ihre sozialen Bezüge.

Warum eher jüngere Menschen?

Seidl Es bricht wohl eher bei den Jüngeren aus, im Teenager-Alter oder noch bis ins junge Erwachsenen-Alter hinein. Vielfach wird es in diesem Alter auch noch eher erkannt. Je älter die Menschen werden, desto mehr Schutzmechanismen bauen sie sich auf. So wird die Krankheit in manchen Fällen vielleicht erträglicher oder flaut schließlich ab.

Ist Borderline für Außenstehende erkennbar?

Seidl Auf den ersten Blick merken sie es vielleicht nicht. Ganz im Gegenteil, vielleicht treten sie mit den Personen sogar sehr gut und sehr schnell in Kontakt. Aber spätestens, wenn sie jemanden näher kennenlernen, werden sie es mit der Zeit bemerken. Die Betroffenen haben immer eine Unausgeglichenheit, die man wahrnimmt und keine innere Konstanz. Sie sind sehr extrem. Sobald sie mit so jemandem in einer Freundschaft stehen oder sogar einer Beziehung, dann merken sie es.

Wie viele Patienten behandeln sie auf dem Sonnenberg?

Seidl Wir haben durch unser Spezialprogramm zu normalen Zeiten immer sechs Plätze, die immer belegt sind. Wir haben auch eine größere Warteliste. Zu den genannten Krisen-Interventionen kommen unterschiedlich viele Leute.

Gibt es bei der Diagnostik häufig Fehldiagnosen?

Seidl Psychiatrische Diagnostik ist eine gewisse Kunst und man muss sehr viel an Informationen einbeziehen. Fehldiagnosen treten immer mal wieder auf. Meiner Erfahrung nach werden sie am häufigsten gemacht, wenn es um die Selbstverletzungen geht. Oft wird da der Schluss gezogen: Selbstverletzung ist gleich Borderline. Oft wird bei Borderliner auch ausschließlich die Diagnose Depression gestellt. Betroffene können immer wieder auch in depressive Phasen geraten. Dann wird nur die Depression gesehen, aber nicht das, was dahinter steht.

An welchen Aspekten machen sie bei einem Patienten fest, dass er Borderline hat?

Seidl Es gibt standardisierte Tests und Fragebögen, die man einsetzen kann. Rein klinisch gesehen wird Borderline an Schwierigkeiten mit der Affektregulation, dem gestörten Selbstbild, extremen Beziehungsverhalten, Spannungsregulation und dissoziativen Zuständen festgemacht. Wenn das alles zusammenkommt, dann liegt der Verdacht sehr nahe. Erhärten kann sich die Diagnose dann, wenn man ausführlich mit den Personen redet, die den Betroffenen nahe stehen und sich diese Verhaltensweisen dort bestätigen.

Wird Borderline auch mit Medikamenten behandelt?

Seidl Wir erleben oft, dass Medikamente sehr breit eingesetzt werden. Es ist aber umstritten, welches Medikament wie hilft und es ist auch im Einzelfall sehr unterschiedlich. Sagen kann man aber, dass Medikamente bei Borderline im Einzelfall gezielt und vorübergehend eingesetzt, hilfreich sein können. Zum Beispiel zur Spannungsregulation. Aber auch Antidepressiva sagt man einen positiven Effekt zu, wenn jetzt jemand im Rahmen seiner Borderline-Störung in einer stark depressiven Verfassung steckt. In der Therapie sind die Medikamente aber nicht das Entscheidende. Borderline ist keine Krankheit, die ausschließlich einer medikamentösen Therapie zugänglich ist. Begleitend sollte immer eine Psychotherapie erfolgen.

Mit weiteren Fragen können sich Interessierte per Mail an die Adresse sekr.psychiatrie@sb.shg-kliniken.de wenden. Alle Texte der Serie sowie eine ausführlichere Version des Interviews finden Sie unter www.saarbruecker-zeitung.de/psychiatrie.

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