Wenn guter Apfelsaft Erinnerungen weckt

flüssig&gut · Der tote Dichter hat uns nicht an der Nase herumgeführt. Gerüche locken uns in die Vergangenheit. So wie er, Marcel Proust, es vor 90 Jahren in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschrieben hat.

Längst keine vebotene Frucht mehr: der Apfel. Foto: Seeger/dpa

Längst keine vebotene Frucht mehr: der Apfel. Foto: Seeger/dpa

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Seit 17 Monaten ist Apfelsaft für mich nicht einfach nur ein Getränk. Seit 19 Monaten wird mir das Herz schwer, wenn ich einen guten Apfelsaft rieche oder schmecke. Vor 19 Monaten ist nämlich ein Mann gestorben, der mit Apfelsaft die Welt, aus der er an einem Novembertag 2015 gerissen wurde, erklären und ein kleines Stückchen besser machen konnte. Der Mann hieß Martin Bauer.

Martin war erst 53 Jahre als sein Herz einfach aufhörte zu schlagen. Er war Leiter des Exodus, des von der katholischen Kirche betriebenen Cafés für Jugendkultur im Nauwieser Viertel mitten in Saarbrücken. Irgendwann, als wir wieder mal über eins der vielen Rockkonzerte redeten, das er mit "seinen" Jugendlichen organisierte, hat mir Martin ein Glas Apfelsaft eingeschenkt.

Und dann hat er erzählt: Der Apfelsaft wurde aus Äpfeln gepresst, den die Jugendlichen selbst gepflückt haben - auf Streuobstwiesen im Bliesgau. Und so wundervoll wie der Apfelsaft war auch das Glänzen in Martins Augen, als er mir erklärte, wie wichtig es für die Stadtjugendlichen ist, raus in die Natur zu kommen. Wie faszinierend es für die jungen Leute ist, etwas zu trinken, was sie mit ihrer eigener Hände Arbeit geerntet haben. Und wie wichtig es für diese Welt ist, dass die Lebensmittelproduktion nicht komplett nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert wird, sondern dass es auch solche Wiesen gibt, die so wichtig sind und dennoch verlorengehen - wenn wir nicht auf sie aufpassen.

"In den letzten 50 Jahren ging die Zahl der Streuobstwiesen um mehr als 70 Prozent zurück, und damit auch die Artenvielfalt." Daran habe ich mich vor ein paar Tagen von einer Firma in Losheim am See erinnern lassen. "Naturbursche" heißt sie. Und in meinem Saarbrücker Lieblingssupermarkt bin ich auf Apfelsaft aus deren Produktion gestoßen. Die Äpfel dieses Saftes kommen von Streuobstwiesen. Wiesen, wie die Naturbuschen sagen, auf denen "sehr alte Apfelsorten, die über 300 Jahre alt sind" wachsen.

Dass ein Geruch und ein Geschmack, wie mich der dieses Apfelsafts, an etwas erinnert, ist Psychologie. Proust-Phänomen nennen es die Fachleute, weil an einem Sonntagmorgen Anfang des 20. Jahrhunderts ein junger Mann einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten Stück Gebäck zum Mund führte und plötzlich ans Dorf seiner Kindheit denkt. Marcel Proust hat diese Szene 1927 in seinem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" beschrieben.

Martin war ein gläubiger Mensch. Und wenn er richtig lag mit seinem Glauben, dann streift er jetzt höchstwahrscheinlich durch ein Paradies, in dem die Äpfel keine verbotene Frucht sind, sondern in paradiesischen Streuobstwiesen hängen.

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