Kuckuck, ich sehe dich!

Saarbrücken für Fortgeschrittene · Wer schon mal mit Kindern Verstecken gespielt hat, weiß, dass sich Zweijährige nicht etwa damit aufhalten, ein verborgenes Plätzchen zu suchen, sondern sich nur flugs die Händchen über die Augen legen: Du siehst mich nicht, weil ich dich nicht sehe, glauben sie.

Bei Kleinkindern ist diese Fehlwahrnehmung wahnsinnig drollig. Weniger süß ist, dass sich dieses Phänomen im Alter in abgewandelter Form zurückmelden kann, stelle ich fest. Gefährdet sind vornehmlich Menschen über 60 mit gardinengeschmückten Eigenheimen, die außerhalb des Stadtkerns in ruhigen Siedlungen stehen. Im Gegensatz zu Zweijährigen halten sich die Eigenheim-Besitzer aber nicht etwa die Hände vor die Augen, sondern ziehen für ihr Unsichtbarsein lediglich die Gardinen etwas zur Seite.

Hinter Fensterglas und Gardinenspalt verschwindet man, glauben sie. Manchmal winke ich meinen stoisch guckenden Bald-Nachbarn einen Gruß zu oder murmele ein leises "Kuckuck, ich sehe dich". Beides perlt unerwidert am Fensterglas ab. Überhaupt denke ich, seitdem ich weiß, dass ich bald die Wohnung im Stadtkern gegen ein Haus in der Siedlung tausche, ständig über Fenster nach. Fenster, auch die ohne Gardinen, sind teuer. Einer der Fensterbauer hatte in seinem Angebot aber nicht nur säuberlich die Summen notiert, sondern sich gleich allerlei aus dem Internet ausgedruckt. "Uh, warum haben Sie ein Foto von meiner Lebensgefährtin und mir?", wollte mein verdutzter Freund wissen. "Ach, ich hab' Sie mal gegoogelt!", so seine lapidare Antwort. Nicht nur Wohnorte, sondern auch Berufe prägen Menschen. Und ein Fensterbauer will eben auch den Kunden gläsern. Schon vorm Umzug fange ich jetzt an, unsere Wohnung zu vermissen. Die oft gescholtene Anonymität im Stadtkern hat einen Vorteil: Man fühlt sich nicht ständig beobachtet…

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