Habt Ihr noch alle Latten am Zaun?

Saarbrücken für Fortgeschrittene · Manchmal will ich nicht mehr, dass meine Stadt meine Stadt ist. Manchmal ist mir meine Stadt nämlich so peinlich, dass ich sogar anfange, mit einem zu reden, von dem ich glaube, dass es ihn gar nicht gibt, zumindest nicht so, wie wir Menschen ihn uns gemeinhin vorstellen.

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Foto: Robby Lorenz

"Lieber Gott, bitte mach, dass das außer mir und meinetwegen noch ein paar Saarbrückern niemand mitkriegt auf der Welt", grummele ich dann. Oder: "Schleuder einen Blitz, lass die Flut kommen, aber mach, dass es aufhört."

Manchmal wird es dann aber noch schlimmer. Wie bei der Sache mit dem Foto. Auf dem Bild sind zwei Männer zu sehen. Einer trägt die Uniform des Saarbrücker Ordnungsdienstes, er misst mit einem Zollstock die Oberweite einer Schaufensterpuppe, die auf der Treppe vor einem Laden am St. Johanner Markt steht. Der zweite Mann, der in seiner kurzen Hose und Sandalen eigentlich aussieht, als sei er im Urlaub, fotografiert das Ganze.

Der Inhaber des Ladens hat die Szene fotografiert und berichtet, dass er gerade "wieder Besuch von Clever & Smart vom Saarbrücker Ordnungsamt gehabt" hat.

"Die beiden messen gerade allen Ernstes nach, ob unsere Warenpräsentation wirklich nicht mehr als 30 Zentimeter in den öffentlichen Raum ragt", erklärt er.

Als ich das Bild gesehen habe, war mir meine Stadt so peinlich wie schon lange nicht mehr. Zwei erwachsene Männer messen nach, ob eine Schaufensterpuppe womöglich ein paar Zentimeter zu dick ist? Das war ein Tiefpunkt in der sowieso nicht gerade ruhmreichen Geschichte des Ordnungsamts am St. Johanner Markt.

"Schlimmer kann es nicht mehr kommen" dachte ich. Aber es kam schlimmer.

Das Foto wurde im Internet verbreitet. Dort sorgte es für Spott und Fragen. Jemand vermutete zum Beispiel, dass es sich bei den beiden Männern nicht um Ordnungshüter, sondern um Aktionskünstler handelt. "Hat das Ordnungsamt wirklich nichts Wichtigeres zu tun?", wurde gefragt. Und mir drängte sich noch eine Frage auf: "Wie kann man sich freiwillig so lächerlich machen?"

Diese Frage beantwortete mir ein paar Tage später der Mann mit der Uniform. Natürlich mache man sich nicht freiwillig lächerlich. Er mache nur seinen Job. Und nicht selten seien es Händler , die das Ordnungsamt rufen, weil ein anderer Händler sich angeblich nicht an die Regeln halte. Aber der Mann in Uniform hatte ein ganz anderes Problem. Sein Gesicht und das des Kollegen sind auf dem Foto mit Balken verziert - man soll sie nicht erkennen, sagt der Balken dem Betrachter. Aber es gibt Leute, die den Mann dennoch erkannt haben. Auf Internetseiten, die das Foto zeigten, wurde ihm öffentlich (aber ohne dass die Leute sich selbst zu erkennen gaben) mitgeteilt, dass man ihn kenne, wisse, wo er wohnt, und wisse, was man zu tun habe, wenn man ihm mal begegnet. Es gab Menschen, die haben ihn sogar zu Hause angerufen. Er und seine Familie wurden beschimpft und bedroht.

Da war meine Stadt plötzlich nicht nur peinlich, sie war gruselig. Doch auch jetzt wollten die Götter mir nicht den Gefallen tun, vom Olymp zu steigen. Es bleibt uns, die wir unsere Stadt mögen, wohl nichts anderes übrig, als denen, die jedes Maß verloren haben und Menschen Angst machen, und denen, die von ihren Mitarbeitern verlangen, Schaufensterpuppen nachzumessen, entgegenzuschleudern: Habt Ihr noch alle Latten am Zaun?

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