Er leistet Erste Hilfe für geschundene Seelen

Rilchingen-Hanweiler · Wer zusehen musste, wie seine Eltern unter den Händen von IS-Terroristen starben, trägt tiefe seelische Wunden davon. Der pensionierte Lehrer Jörg Merzenich will, dass diese Kinder neuen Mut fassen können. Trotz allem.

 Jörg Merzenich am Rande des irakischen Flüchtlingslagers. Foto: Bernd ruf

Jörg Merzenich am Rande des irakischen Flüchtlingslagers. Foto: Bernd ruf

Foto: Bernd ruf

Satt blau überspannt der Himmel das kräftige Grün in der Mariannenstraße. Jörg Merzenich (68) bietet Kaffee an, nimmt Platz. Im Hintergrund spielt die schwäbische Band Dr. Mablues. Der Mix aus klaren Strukturen, Spielfreude und Spontaneität passt gut zum Waldorf-Pädagogen Merzenich.

Was er kann, lässt er, der ab 1987 die Bildstocker Johannesschule mit aufgebaut hat, über die Pensionierung 2011 hinaus wirken. Ruhestand? Von wegen.

Seine Gedanken schweifen nur kurz zurück. Der leidenschaftliche Lehrer verarbeitet die Eindrücke aus dem dritten Einsatz in nordirakischen Flüchtlingslagern. Er denkt an junge Gewaltopfer, denen er bis Mitte Juni zur Seite stand. Das Kinderhilfswerk Unicef hatte ihn und weitere Notfallpädagogen aus dem Verein "Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners" (siehe Stichwort) angefordert, um rund 800 jungen Terror-Opfern zu helfen.

Merzenich war Teil eines Teams aus Erlebnispädagogen, Kunsttherapeuten, Waldorferziehern und einem Heilpädagogen . Es sprach mit Kindern, die zusehen mussten, wie ihre Eltern unter den Händen von IS-Terroristen starben. Nun leben die Waisen, dem IS-Terror entronnen, in riesigen Lagern. Bei bis zu 45 Grad im Schatten. Ohne Kühlung. Wasser und Strom gibt's nicht immer in den Notsiedlungen. Schritt für Schritt tasten die Jungen und Mädchen sich zurück in die Normalität. Die Notfallpädagogen sind Begleiter am Anfang des mühsamen Weges. "Das fängt an mit dem Dach über dem Kopf und geht mit dem Aufbau verlässlicher Beziehungen weiter. Es geht um die Reintegration der Opfer, damit sie nach und nach trotz allem Richtung normales Leben gehen können."

Deswegen folgen dem üblichen Unterricht die besonderen Angebote der Waldorfpädagogen. Sie üben Rituale ein, ermuntern, zur Begrüßung und zum Abschied einen Kreis zu bilden, singen, zeigen bei Spielen, dass Zusammenleben Regeln und Verlässlichkeit braucht. Kunsttherapie bietet Ventile, verhindert, dass Verdrängtes weitergärt.

Die Arbeit mit den Helfern aus Deutschland machte den Kindern so viel Freude, dass ein tränenreicher Abschied folgte. Das Werk der Notfallpädagogen wirkt dank Fortbildung der dortigen Lehrer in den Lagern weiter.

Auf die Not anderer lässt er sich auch im Saarland ein. Er machte unter anderem eine Ausbildung zum ehrenamtlichen Notfallseelsorger. Bei Unglücken im Regionalverband ist er seit 2011 zur Stelle, wenn den medizinischen Fachleuten im Einsatzstress die Zeit fehlt. Die Lebensfreude kommt, wie es sich für einen Familienmenschen und Genießer gehört, nicht zu kurz. Merzenich, seit 1989 mit Familie im Ort, pflegt den Kontakt zu den Pétanque-Spielern, schätzt die Freiwillige Feuerwehr und die Nähe zu Frankreich.

Während er davon schwärmt, holt ihn sein Ehrenamt ein. Die Feuerwehr ruft an. Eine Frau hat ihre erwachsene Tochter tot in der Wohnung gefunden. Da muss einer hin, der zuhören kann. Merzenich zieht die Jacke mit der Aufschrift Notfallseelsorger an und fährt los - der nächsten Herausforderung entgegen.

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StichwortDie Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. setzen sich seit 1971 für die Waldorfpädagogik und für Freiheit im Bildungswesen ein. Freiwilligendienste in aller Welt organisiert das Büro in Karlsruhe seit 1993 und ermöglichte schon rund 7000 Menschen einen sozialen Dienst in gut 350 Projekten, verteilt auf rund 60 Länder. In der Notfallpädagogik ist der Verein seit 2006 tätig. Nach Kriegen und Naturkatastrophen arbeiteten seine Mitglieder mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen im Libanon (2006), China (2008 und 2013), Gaza (2009-2014), Indonesien (2009), Haiti (2010), Kirgistan (2010), Japan (2011) und Kenia (2012-2013), Philippinen (2013-2015), Kurdistan-Irak (2013-2015), Bosnien-Herzegowina (2014) und Nepal (2015). (Quelle: Vereinsangaben) ole

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