Katja Diehls Buch Autokorrektur Verkehrsexpertin zur Gerechtigkeit im Straßenverkehr: „Alles wird dem Auto untergeordnet“

Interview | Saarbrücken · Die Mobilitätsexpertin Katja Diehl hinterfragt in ihrem neuen Buch „Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“ radikal die Liebe der Deutschen zum Pkw. Die SZ hat mit ihr gesprochen.

Katja Diehl beschäftigt sich seit Jahren mit neuen Formen der Mobilität. Für sie ist eine Abkehr vom Auto nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern auch eine der Gerechtigkeit.

Katja Diehl beschäftigt sich seit Jahren mit neuen Formen der Mobilität. Für sie ist eine Abkehr vom Auto nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern auch eine der Gerechtigkeit.

Foto: Amac Garbe

Will Deutschland seine Klimaziele erreichen, ist eine Verkehrswende nötig. Katja Diehl geht jedoch noch einen Schritt weiter: Für die Braunschweigerin ist Mobilität eine Frage der Gerechtigkeit. Zum Erscheinen ihres Buchs „Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“ (ab 9. Februar) hat die SZ mit ihr gesprochen – über das „Autoland Saarland“, Tempo 30 in Saarbrücken und die Bedürfnisse des ländlichen Raums.

Frau Diehl, in den sozialen Netzwerken setzen Sie sich seit Jahren offensiv für eine Verkehrswende ein. Nun erscheint Ihr erstes Buch. Darin findet sich das Motto: „Jeder und jede soll das Recht haben, ein Leben ohne ein eigenes Auto führen zu können.“ Was meinen Sie damit?

“Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“, erhältlich ab 9. Februar.

“Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“, erhältlich ab 9. Februar.

Foto: S. Fischer Verlag/Brack/Linda Brack

Katja Diehl Mir ist bewusst, dass es natürlich Menschen gibt, die gerne Auto fahren. Dagegen habe ich nichts. Aber allein durch die Recherche zu meinem Buch habe ich über 60 Personen kennengelernt, die entweder von Automobilität ausgeschlossen sind oder aber Auto fahren, obwohl sie es gar nicht wollen. Das ist, glaube ich, so ein bisschen der blinde Fleck der Verkehrspolitik. Auf 83 Millionen Menschen in Deutschland kommen fast 50 Millionen private Pkw. Wir werten das als Erfolg, aber ich sehe darin eher eine misslungene Verkehrspolitik. Es gibt viele Menschen, die sagen: „Gäbe es Alternativen, würde ich die Karre sofort verkaufen.“

Wieso tun sie es dann nicht?

Diehl Weil es diese Alternativen nicht gibt. Die Mobilitätsbedürfnisse dieser Leute werden nicht gedeckt. Das finde ich nicht schön. Ich zitiere in meinem Buch das Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ich finde, um Mobilität bitten zu müssen, ist nicht menschenwürdig. Gerade der „ländliche Raum“ wird häufig als Ausrede genutzt, um nichts zu ändern. Meine Eltern wohnen ländlich. Wenn ich dort bin, muss ich sie ständig hin- und herfahren, weil Bus- und Bahnverbindungen gestrichen wurden und einfach alles aufs Auto fokussiert ist. Menschen ohne Führerschein, 13 Millionen Erwachsene allein in Deutschland, können dort eigentlich nicht leben, denen bringt Autoverkehr überhaupt nichts. Andere empfinden Autofahren als Belastung. Deren Geschichten wollte ich in meinem Buch erzählen.

Was braucht der ländliche Raum aus Ihrer Sicht?

Diehl Das Gleiche, was es schon in Städten gibt, beispielsweise Carsharing-Angebote. Auch Leihfahrräder, mit denen man zum Bahnhof fährt oder E-Scooter, die sich im Zug gut mitnehmen lassen, können da wieder eine ganz neue Dynamik reinbringen. Damit lassen sich Mobilitätslücken schließen. Im ländlichen Raum sind viele Autofahrten unter fünf Kilometer lang, die ließen sich auf diese Weise gut ersetzen.

Im Saarland sollen alte Bahnstrecken reaktiviert werden. Reicht ein guter ÖPNV, um Menschen den Umstieg schmackhaft zu machen?

Diehl Natürlich müssen wir Angebote schaffen, aber es geht hier auch um die Änderung eines Verhaltens, das ganz tief in uns drin steckt. Dazu gehört auch, das Auto unbequemer zu machen. Das muss parallel laufen. Das Auto genießt so viele Privilegien, die momentan als Normalzustand gesehen werden. Die müssen wir abschaffen. Vor allem, damit auch diejenigen, die nur aus Bequemlichkeit ein Auto haben, ihr Verhalten hinterfragen und auf Alternativen wechseln. Wir müssen Fehler korrigieren, den wir in der Vergangenheit gemacht haben. Heute haben deutsche Haushalte im Schnitt 1,3 Autos. Bei den vielen Menschen ohne Führerschein heißt das, dass andere drei oder vier Autos haben. Das zeigt, dass Autofahren zu billig ist.

Wenn es um Spritpreise geht, heißt es aber doch immer, dass arme Menschen am meisten darunter leiden.

Diehl Ärmere Leute haben den geringsten Autobesitz in Deutschland. Die, die eins haben, müssen vermutlich eine Woche im Monat nur dafür arbeiten gehen. Ich würde hier nicht bei den Spritpreisen ansetzen, sondern der Frage, wieso es Armut in Deutschland gibt. In Buch erzähle ich von einer Frau – Mutter von vier Kindern – die am Ende des Monats entscheiden muss, ob sie tankt oder den Kindern Bio-Essen kauft. Menschen vor so eine Entscheidung zu stellen ist unwürdig. Solche Menschen halten dann als Ausrede her. Wir kümmern uns nie um Arme, nur wenn etwas an der Mobilität geändert werden soll, sind sie uns plötzlich wichtig. Diese Frau wünscht sich ganz klar einen besseren ÖPNV, da kauft sie einmal ein Monatsticket und kann einen Haken setzen, während ihr Auto ständig ungeplante Kosten verursacht.

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch, was wir eigentlich alles opfern für den Autoverkehr, ohne es zu merken. Wann wurde Ihnen das zum ersten Mal bewusst?

Diehl Ich wurde in den Siebzigern geboren, da waren Autos schon überall. Es gibt immer weniger Menschen, die noch davon berichten können, wie es vorher war. Vor dem Auto gab es sogenannte „Shared Spaces“: Kutschen, Fußgehende und Radfahrende haben sich einen Raum geteilt, man konnte sich mit Blicken verständigen. Durch das Auto mussten Straßen und Gehwege getrennt werden, weil es einfach völlig unterschiedliche Mobilitätsformen sind, was Geschwindigkeit und Verletzlichkeit angeht. Ich selber habe einen Führerschein, aber noch nie ein Auto besessen. Ich war daran gewöhnt, aber irgendwann war es wie ein Schleier, der mir vor den Augen weggezogen wurde: Überall parken Autos in zwei Reihen, dazu mindestens zwei Fahrspuren. Alles andere wird dem untergeordnet. Warum eigentlich? Seitdem fällt mir täglich immer mehr auf, was nicht gut läuft.

Stellen Sie hier einen gesellschaftlichen Wandel fest?

Diehl Menschen, mit denen ich darüber spreche, erschrecken richtig, wenn ihnen klar wird, wie abhängig sie von ihrem Auto sind. Kein schönes Gefühl, schließlich kann man immer mal krank werden oder den Job verlieren. Und andere, die ohne eigenes Auto leben, werden langsam zu Recht laut. Wieso stecken wir so viel Geld in diese Mobilitätsform, obwohl andere viel besser sind? Einmal fürs Klima, aber auch für den sozialen Mehrwert? Klimaschutz ist wichtig, aber diese Ungerechtigkeit kommt bei mir an erster Stelle.

Es bringt also nichts, jetzt einfach alle Verbrenner gegen E-Autos auszutauschen?

Diehl Natürlich nicht. Ein elektrisches Auto ist ohnehin nur sauber, wenn es nicht mit Kohlestrom fährt. Jedes Auto, das nicht gebaut wird, ist ein gutes Auto, weil darin ja auch wieder Ressourcen stecken. Auch wenn kein CO2 aus dem Auspuff kommt, entsteht trotzdem welches bei der Produktion, es gibt Reifenabroll-Geräusche, Mikroplastik durch Autoreifen, Platznot in den Städten.

In Saarbrücken forderte Fridays for Future Saar vor einigen Jahren eine autofreie Innenstadt. Aber ist das überhaupt realistisch?

Diehl Um uns herum verbannen viele Städte – London und Paris zum Beispiel – Autos aus Innenstädten. Nur in Deutschland scheuen wir uns davor. Wir verfolgen seit den Fünfzigern das Ziel der „autogerechten Stadt“. Wir haben die schönsten Plätze in Städten und Dörfern für parkende Autos geopfert, damit die Autofahrer bloß keinen Meter laufen müssen. Ein Trauerspiel. Saarbrücken könnte sich hier an die Front der Bewegung setzen. Anne Hidalgo (Bürgermeisterin von Paris, Anm. der Red.) legt da ein mutiges Tempo vor: Von jetzt auf gleich hat sie die achtspurige Autobahn an der Seine entfernt. Auf einmal sind dort überall Fahrräder und Fußgehende. Keiner von denen sagt: „Wie schade, dass die Autos weg sind.“ Für die Leute, die da wohnen, ist das ein Gewinn. Bei unseren Städten habe ich häufig das Gefühl: Die Menschen, die durchfahren, sind wichtiger als die Anwohner und Anwohnerinnen.

Stichwort Stadtmitte am Fluss: In Saarbrücken führt die Stadtautobahn direkt an der Saar vorbei – in Hör- und Sichtweite von Parks und Gastronomie…

Diehl Das nimmt man hin, weil man sich gar nicht vorstellen kann, dass sich je was ändert. Wir sind eigentlich traurige, gestresste Gestalten. Erst die Pandemie hat es geschafft, dass wir mal darüber reflektieren, ob Familienzeit nicht wertvoller ist als beispielsweise die Zeit, die wir mit dem Pendeln zum Job verbringen. Die Verkehrswende wäre viel einfacher, wenn wir nicht immer von A nach B hetzen müssten. Wir haben da ein falsches Wertesystem, zu dem irgendwie auch Hektik als Statussymbol gehört.

Jetzt steht immerhin Tempo 30 in der Saarbrücker Innenstadt zur Diskussion. Manche sagen, dass in Städten ohnehin nicht schneller gefahren wird. Bringt ein Tempolimit dann überhaupt was?

Diehl Tempo 30 verursacht weniger Abgase, der Verkehr rollt flüssiger, weil es nicht diese Jagd zwischen zwei Ampeln gibt. Man hat eine angeglichene Geschwindigkeit, die Ruhe in das System reinbringt. Ich bin im Vorstand des VCD (Verkehrsclub Deutschland, Anm. der Red.), der die „Vision Zero“ verfolgt – das Ziel, dass keine Menschen im Straßenverkehr mehr umkommen. Das haben Städte wie Oslo und Helsinki bereits erreicht. Ein schönes Ziel, aber leider im neuen Koalitionsvertrag nicht mehr drin. Dabei sterben täglich acht Menschen in Deutschland im Straßenverkehr. Stellen Sie sich das mal bei der Bahn vor. Aber bei Autos nehmen wir das einfach hin, als wäre das ein seltsamer Kult. Dazu bedeutet jeder Verkehrstote im Schnitt 113 traumatisierte Menschen. So hart wie das klingt: Das ist auch ein enormer volkswirtschaftlicher Schaden. Bei Tempo 30 ist die Unfallschwere viel geringer als bei Tempo 50. Ich finde es gut, dass immer mehr Städte das realisieren wollen.

Andererseits hängen an der Auto-Industrie sehr viele Arbeitsplätze – gerade auch im „Autoland Saarland“...

Diehl Wenn man sich so einen Namen gibt, kann ich mir vorstellen, dass die Entscheidungen die Mobilität betreffend auch eher autofreundlich ausfallen. Natürlich gibt es im Saarland viele Zulieferer. Aber solche Statistiken, auch für den Bund, sind oft völlig übertrieben. Da wird dann sogar der Holzfäller als Arbeiter der Autoindustrie gezählt, nur weil Porsche aus dem Holz ein Cockpit baut. Für die Bahn könnte man sicher ähnliche Zahlen aufrufen. Verschiedene Studien gehen davon aus, dass durch eine Verkehrswende sogar mehr Arbeitsplätze entstehen. Natürlich andere als heute. Aber es gibt ja auch keine Kutscher mehr. Es ist normal, dass manche Jobs verschwinden. Wir müssen Busse, Züge, erneuerbare Energien ausbauen, dazu kommt das ganze Personal im ÖPNV.

Im Saarland sollen die Bahnhöfe in den nächsten Jahren mit 167 Millionen Euro saniert werden. Sollte man mit so viel Geld nicht eher die Preise senken?

Diehl Das hat seine Berechtigung, beispielsweise beim Thema subjektive Sicherheit. Abends ist an Bahnhöfen alles zu. Es gibt viele Frauen, die von Belästigungen im ÖPNV berichten. Da nützt alle Technik nichts, da brauchen wir mehr Personal. Ich würde im ländlichen und suburbanen Raum Bahnhöfe gerne zu neuen Anlaufpunkten machen – mit Post, Café, der gesamten Nahversorgung, die aus den kleinen Städten und Dörfern hinausgedrängt wurde. Die Deutsche Bahn hat vor, dort auch Coworking-Spaces zu schaffen. Damit würden ganz neue Mobilitätszusammenhänge geschaffen, die Arbeitswege verkürzt. Ich glaube, es ist nicht gut, wenn Leute nur noch von zu Hause arbeiten. Aber einen solchen Raum zu haben, mit guter digitaler Infrastruktur, wo man Kolleginnen und Kollegen trifft, also auch einem sozialen Aspekt – das fände ich fantastisch.

Wie sieht für Sie das Dorf der Zukunft aus?

Diehl Kurze Wege! Ich glaube, im Dorf wird es immer auch Autos geben, die sollten aber klein und elektrisch sein und möglichst mit dem Strom von einer Photovoltaik-Anlage auf dem Dach beladen werden. So ist man unabhängig von den großen Ölkonzernen. Es gibt eine kleine Einkaufsmöglichkeit und Orte der Begegnung, wo das soziale Leben stattfindet. Von dort kommt man leicht mit Fahrrad, Scooter oder Ruftaxi zum Bahnhof und in die nächste Stadt. Jeder hat die Wahl, es gibt barrierefreie Möglichkeiten, gute Rad- und Gehwege, innerorts gibt es 30er Zonen und solche, wo Autos nicht hindürfen. Das wäre meine Vision.

Viele Kommunen sind gerade dabei, Radverkehrskonzepte zu erarbeiten. Was sollten sie dabei beachten?

Diehl Die Infrastruktur sollte möglichst baulich getrennt werden. Wichtig ist aber vor allem, dass der Platz dafür vom Auto kommen muss. Man muss schauen, wo man Spuren umwidmen kann für den Rad- und Scooterverkehr.

Die Autofahrer sollen also jetzt mal zurückstecken?

Diehl Ja! Alle, die nicht im Auto sitzen, müssen das ja schon immer. Schließlich haben wir auch den Pariser Klimavertrag unterschrieben, und normalerweise halten wir Deutschen doch unsere Versprechen. Der Verkehr hat bisher nichts an seinen Emissionen verringert. Wie gesagt: Das Auto hat zu viele Privilegien. Sollten Menschen auf dem Rad nicht wenigstens die gleichen Rechte haben?

Kritiker werfen Ihnen häufig vor, zu radikal zu sein. Wie sehen Sie sich selbst?

Diehl Ich hatte erst Probleme mit dieser Bezeichnung, weil sie doch einen eher negativen Zungenschlag hat. Ursprünglich bedeutete das Wort jedoch „an die Wurzel gehen“. Und das tue ich: Ich gehe an die Wurzel der Probleme unserer Verkehrssysteme. Von daher kann ich mit dem Begriff leben.

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