Fast blind, doch mitten im Leben „Unsere Hände sind unsere Augen“

Dudweiler · Wolfgang Wagenbreth und seine Frau Annette, beide fast blind, arbeiten in ihrer eigenen Physiotherapeuten-Praxis.

 „Physio mit Hand und Herz“, das ist der Slogan von Annette und Wolfgang Wagenbreth.

„Physio mit Hand und Herz“, das ist der Slogan von Annette und Wolfgang Wagenbreth.

Foto: Thomas Seeber

„Es gibt für alles eine Lösung.“ Das ist ein markanter Satz, der Mut macht. Der Menschen Mut macht, die mit ihrem Schicksal hadern. Ein solches Schicksal traf  Wolfgang Wagenbreth. Im Alter von 39 Jahren verlor er sein Augenlicht. Nicht ganz, aber nahezu. Diagnose: Retinitis pigmentosa. Es ist dies eine Netzhaut-Degeneration, bei der die Photorezeptoren zerstört werden. Voller Schlag ins Kontor. Und was nun? Als Sozialpädagoge arbeiten, das ging nicht mehr. Eine berufliche Zukunft jedoch – die sollte es geben. Der Mann aus Bremerhaven ließ sich zum Physiotherapeuten ausbilden. Und lernte – welch glücklicher Umstand – in dieser Zeit seine spätere Ehefrau Annette (51) kennen. Auch sie stark sehbehindert, fast blind, erst Verkäuferin und dann 20 Jahre lang als Arzthelferin tätig.

Er folgte seiner großen Liebe nach Dudweiler und betreibt mit ihr seit Oktober 2017 eine eigene Praxis mit drei Mitarbeiterinnen an der Rezeption, mit eben seiner Frau und einem jungen Mann als Neuzugang. Die davor liegenden Schwierigkeiten beschreibt der Chef des kleinen mittelständischen Unternehmens lächelnd im Telegrammstil: „Hartz IV. Keine Kohle. Behindert“. Es habe eineinhalb Jahre gedauert, bis die Bank grünes Licht gegeben habe in Hinblick auf die Praxis-Finanzierung. Doch der verantwortliche Chef des Geldinstituts habe ihm und seiner Frau das Wagnis der Selbstständigkeit zugetraut.

Wolfgang Wagenbreth hat sich in Brasilien einer Therapie unterzogen, die es in Deutschland nicht gibt. Und so ist es nicht ganz zappenduster um ihn herum, sondern er kann in geringer Entfernung noch Umrisse und Farben erkennen. „Auf ein, zwei Meter kann ich Menschen sehen“, sagt er. Und wie kann man sich als Sehender sein Gebrechen vorstellen? „Es ist so, als würde man durch ein engmaschiges Nudelsieb blicken. Je weiter weg, umso weniger Schärfe“,  erklärt er das, was er wahrnimmt. Zuhause und in der Praxis könnten er und seine Frau sich relativ frei bewegen, „weil wir die Grundrisse im Kopf haben.“  Im Übrigen bewältigen sie auch den etwa zwei Kilometer langen Weg von und zur Praxis entweder zu Fuß oder mit dem Bus. Und sie verreisen, man soll es nicht glauben. Da gebe es einen speziellen Service – sowohl bei der Bahn als auch im Flugverkehr mit Abholen, Check in, mit allem Drumherum. So ging es für die Wagenbreths auch schon mal nach Hawaii.

„Unsere Hände sind unsere Augen“, machen beide klar, dass andere Sinne sich verändern,  wenn man blind ist. Das Gefühl in den Fingern verschärfe sich, ebenso der Geruchsinn, erklärt das  Physiotherapeuten-Duo. „Wir riechen manchmal etwas, das andere Leute gar nicht erst wahrnehmen.“

Glücklich sind sie beide, dass sie weitestgehend zurechtkommen im Leben. Und erachten das, was sie gesundheitlich ereilte, als eine Art Fügung. „Ohne mein Handicap hätte ich meinen Mann nie kennengelernt“, sagt Ehefrau Annette und lacht. Auch er, dieser großgewachsene Mann mit der ansteckenden Lebensfreude, ist froh, dass sich sein neues Dasein so gut anfühlt - im wahrsten Sinne des Wortes.  Erst der Diagnose-Schock und die damit einhergehenden qualvollen Existenzängste, und nun dieser „tolle Beruf und die Selbstständigkeit“.

Elf Jahre haben sich beide gekannt, als sie im Mai vergangenen Jahres  den Bund fürs Leben schlossen. Wobei die Zahl 11 nicht von ungefähr kommt. Denn beide sind glühende Fastnachter, Bei der „Grünen Nelke“ sind sie Mitglied der Nelkensingers. Nebenbei bezeichnet er sich „ein bisschen als Cineast“. Denn auch Fernsehen ist möglich: in 15 Zentimetern Entfernung, mit 65-Zoll-Bildschirm und mit einer Lupenbrille mit Prismenschliff.

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