Doku über Neunkircher Brüder „Bruderliebe“ und der Weg zurück ins Leben

Saarbrücken · Der Neunkircher Markus Becker wird 2008 angefahren, die Ärzte geben ihm keine Woche mehr zu leben. Doch er überlebt und erwacht langsam aus dem Wachkoma – jahrelang betreut von seinem Bruder Michael. Die Dokumentation über die beiden, „Bruderliebe“, ist ein herausragender Film.

 Markus Becker (links) und sein Bruder Michael, der ihn seit 2008 betreut.

Markus Becker (links) und sein Bruder Michael, der ihn seit 2008 betreut.

Foto: Corso Film/Julia Horn

Trockenen Auges wird kaum jemand diesen Moment im Film überstehen: Da sehen sich Vater und Sohn nach Jahren wieder, auf einem Campingplatz. Der Vater spricht wenig, der Sohn nichts – er kann sich sprachlich kaum artikulieren. Seine Augen werden noch größer als sonst, es wirkt, als wolle er schreien – bis er sich ein Tuch in den Mund stopft. Markus Becker heißt der Sohn, die Dokumentation „Bruderliebe“ zeichnet seine Geschichte und die seines Bruders Michael nach: Markus Becker aus Neunkirchen wird 2008 angefahren, von einem Auto mitgeschleift, schlägt mit dem Kopf auf den Bordstein. Er kommt in die Intensivstation, liegt da „wie eine Mumie“, wie sein Bruder Michael sagt. Die Ärzte geben seinem Leben keine Woche mehr; der Vater (die Mutter ist bereits verstorben) wendet sich an die Stadtverwaltung und bestellt ein Grab.

Doch Markus bleibt am Leben, und sein Bruder Michael versucht ihn, gegen alle medizinischen Prognosen, aus dem Wachkoma herauszuführen. Er nimmt ihn aus dem Saarland zu sich in seine Kölner Wohnung, betreut ihn rund um die Uhr, tapeziert die Wand neben dem Bett mit Familienbildern, spricht mit ihm, zeigt ihm Videobotschaften von Freunden und Verwandten aus dem Saarland, Szenen aus Markus‘ altem Leben. Der erwacht langsam und macht Fortschritte, die von außen betrachtet minimal wirken mögen, nicht aber für Michael, den scheinbar Unermüdlichen und Unerschütterlichen – doch auch er hat seine Grenzen. Zwischendurch erleidet er einen Herzinfarkt.

„Bruderliebe“ ist eine herausragende, sehr berührende, dabei nie rührselige Dokumentation. Gedreht hat sie Filmemacherin Julia Horn, die die Becker-Brüder zehn Jahre mit der Kamera begleitet hat. Über einen befreundeten Arzt hörte sie 2008, dem Jahr des Unfalls, von den Brüdern und traf sich mit Michael. „Wir haben vier Stunden miteinander gesprochen“, sagt Horn, „er hat mir seine ganze Geschichte erzählt, ich war sehr beeindruckt von seiner Willensstärke und Überzeugungskraft.“ 1000 Stunden Videomaterial sichtete sie, die Michael von Markus und sich aufgenommen hatte – einige Passagen daraus sind auch im Film zu sehen. Regelmäßige Treffen mit Michael begannen, die Idee zu einem Film reifte, „es war eine lange Vertrauensfindung“. Schließlich drehte Horn in der Beckerschen Wohnung einmal im Monat, mal nur für einen Tag, mal für drei oder vier – und einmal gar nicht. „An dem Tag hat Markus uns signalisiert, dass er nicht gefilmt werden will, dann haben wir unsere Sachen wieder eingepackt.“

 Die Filmemacherin Julia Horn hat die beiden Becker-Brüder zehn Jahre lang begleitet.

Die Filmemacherin Julia Horn hat die beiden Becker-Brüder zehn Jahre lang begleitet.

Foto: Julia Horn/Hornfilm

Die Kamera ist nah dran an Markus und ruht oft auf seinen großen Augen. „Wir zeige ihn selten in einer Totalen“, sagt Horn, „er ist ja kein Gegenstand, sondern schaut uns oft an, so dass man ihm auch wirklich begegnen kann.“ In keinem Moment des Films geschieht dies intensiver als in dem besagten Treffen mit dem Vater, einer Schlüsselszene des Films, der nicht nur von zwei Brüdern erzählt, sondern auch von einer Familie, die an dem Unfall zerbrochen ist.

Der Vater hat sich danach zurückgezogen, den Sohn in Köln nicht besucht, ein Riss ging durch die Familie, in der, wie die Brüder attestieren, nie viel Liebe oder Herzlichkeit geherrscht habe – mit Michael, Markus und Bruder Frank auf der einen Seite, mit dem Vater und einem weiteren Bruder auf der anderen. „Die Wucht dieser Familientragödie war mir beim ersten Gespräch klar“, sagt Filmemacherin Horn. Mit Gefühlsmomenten in ihren Filmen sei sie sonst ja eher sparsam, sagt Horn, „aber diese Szene musste hinein, Markus‘ Reaktion mit Traurigkeit, Erinnerung oder  Schmerz – was immer man darin sieht. Da bekommt Markus eine Sprache.“

Über den Vater, der seinen Sohn aufgegeben zu haben scheint, will Horn nicht urteilen, „vielleicht war es Verdrängung, vielleicht völlige Hilflosigkeit“. Und sie zollt ihm „Hochachtung, dass er sich da nicht versteckt hat“. Zwischen dem Vater und Michael/Markus habe mittlerweile eine „behutsame Annäherung“ begonnen, sagt Horn, „jetzt ist der Zusammenhalt in der Familie größer. Der Vater hat sich sehr bewegt.“

Bei aller Tragik ist „Bruderliebe“ auch ein tröstlicher Film, manchmal mit Komik und heimischer Warmherzigkeit, nicht zuletzt durch die Sprache – als Michael mit Markus in die alte Heimat Neunkirchen fährt, spricht er augenblicklich wieder saarländisch. „Das fand ich sehr anrührend“, sagt die Regisseurin, „die Sprache hat sofort eine Ebene von Heimat und von Humor hineingebracht. Das hatte auch etwas Brüderlich-Kindliches“.

Der Film, gefördert unter anderem von den Saarland Medien, hat nach seiner Weltpremiere in Toronto eine beachtliche Festivalreise hinter sich und läuft nun regulär in den deutschen Kinos. In Köln war auch Markus bei einer Vorstellung dabei. „Er war sehr still und aufmerksam“, sagt Horn, die sich aber nicht anmaßen will, sein Urteil zu erahnen. „Was er über den Film denkt, werden wir erst einmal nicht erfahren.“

www.hornfilm.de

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