Das Gespür für das Detail

Dudweiler · Der promovierte Erziehungs- und Medienwissenschaftler Dr. Martin Ganguly ist im In- und Ausland sehr gefragt. Er betreut als Oberstufenlehrer (Deutsch und Kunst) Gymnasien im Bereich Theaterpädagogik.

 Die Klasse 10 D mit Lehrer Torsten Sunkel und Martin Ganguly. Fotos: Becker&Bredel

Die Klasse 10 D mit Lehrer Torsten Sunkel und Martin Ganguly. Fotos: Becker&Bredel

Mittwochmorgen in der Gemeinschaftsschule Dudweiler . Während die übrigen Schüler sich gerade mit Mathematik oder mit Deutsch herumschlagen, sind aus einem anderen Saal im Erdgeschoss eigenartige Geräusche zu hören. Ein Mädchen schreit um ihr Leben. Ein großer Mann mit einem dunklen Umhang hat sich soeben auf es gestürzt und beginnt mit seinen beiden langen, spitzen Eckzähnen aus ihrem Hals Blut herauszusaugen. Die Handlung ist nicht real, sondern findet im Film "Nosferatu" statt. Den sehen sich die Schüler der Klasse 10 gerade an. Dies jedoch nicht zum Vergnügen. Die Schule nimmt zum zweiten Mal am bundesweiten Projekt "Klassiker sehen - Filme verstehen" teil. Bereits am vergangenen Dienstag haben die Dudweiler Jugendlichen im Saarbrücker Kino Camera zwo etwa sechs Stunden lang Filme angesehen.

Es sind kurze Filmbeiträge, die ihnen der Filmwissenschaftler Dr. Martin Ganguly dann einen Tag später mit in die Klasse gebracht hat. Der Berliner zeigt ihnen, wie verschiedene Regisseure den gleichen Inhalt auf eine andere Art und Weise umgesetzt haben. Zwei Gruppen mit rund 45 Schülern gibt er an diesem Tag sein breites Filmwissen weiter.

Oberweite betont

"War nun das Licht bei "Faust" besser oder wurde der Schatten beim "Tanz der Vampire" anders umgesetzt?", will der umtriebige Mann von den Schülern wissen. Ein wenig verlegen werden sie, als er sie auffordert, bei einer Szene konkreter zu antworten. Nicht jeder traut sich, offen auszusprechen, dass der Vampir zwar auch dieses Mal der Frau an den Hals ging. Doch anders als bei der Variante zuvor, wird die Oberweite der Schauspielerin wesentlich stärker betont. Der Mann da vorne huscht von einer Ecke des Klassenzimmers in die andere. Er platzt geradezu vor Hintergrundinformationen, als er auf das Revival des deutschen Films in den Siebzigern mit Wenders und Schlöndorff zu sprechen kommt. "Die Geräusche haben mich gestört", meint ein Junge bei "Nosferatu". Der Stummfilm am Tag zuvor habe ihm besser gefallen. Da sei das Leiden besser spürbar gewesen. Und die Farbe lenke ab, mache das Ganze gar billig.

Dr. Martin Ganguly lächelt. Seine Rechnung, das Gespür für Details zu wecken, scheint aufzugehen. Die Idee zur Projektteilnahme hatte Lehrer Thorsten Sunkel. Er und Martin Ganguly haben sich über einen gemeinsamen Freund kennengelernt. Die Schule ist die einzige im Saarland, die daran teilnimmt. "Wir wollen die Sinne und das Gespür der Schüler schärfen", erklärt Pädagoge Sunkel den Hintergrund im SZ-Gespräch. Das helfe später auch bei der Theateranalyse und im Deutsch-Abitur, sagt er. Das Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung und der Deutschen Filmakademie gibt es seit etwa zweieinhalb Jahren. Es wird von der Peter-Ustinov-Stiftung unterstützt. In Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg wären die Schüler "bildungshungriger" als anderswo, sagt Ganguly. Doch das komme immer auch auf die Schulart und den jeweiligen Lehrer an.

Deutschland sei im Vergleich zu anderen Ländern "absolutes Schlusslicht", denkt Dr. Martin Ganguly. "Das Heute ist ohne das Früher nicht denkbar" - so sein Credo. Man könne Lady Gaga heute nur verstehen, wenn man auch Madonna und die Beatles kenne. Dazu sei auch Geschichtswissen von Bedeutung. Daran hapere es heutzutage aber oft. Da werde der amerikanische Bürgerkrieg erst in der Oberstufe behandelt, doch man brauche das Wissen schon früher. Es braucht eine Weile, bis man sich an ein Gespräch mit Dr. Martin Ganguly gewöhnt hat. Der Mann ist schnell. Manche würden womöglich gar hektisch sagen. Er selbst würde sich vermutlich eher als effizient und zügig einschätzen. Wenn man sich aber an das Tempo des cineastischen Tausendsassas gewöhnt hat, öffnet sich einem eine völlig neue Welt. Eigentlich ist Ganguly Dozent in der Lehrerausbildung der Universität Berlin. Dort kümmert er sich um Lebenskunde. Ein Fach, das es nur in Berlin gibt und praktische Ethik bedeutet. Gleichzeitig betreut er als Oberstufenlehrer (Deutsch und Kunst) Gymnasien im Bereich Theaterpädagogik . Wenn im Winter in der Bundeshauptstadt die Berlinale stattfindet, ist er dort als Filmpädagoge aktiv. Und dann ist da noch das Projekt, wegen dessen er in Dudweiler war. Darüber hinaus kümmert sich der Sohn eines Inders um ein Anti-Rassismus-Projekt und ist Kurator am Deutschen Filminstitut/Deutsches Filmmuseum. Zudem ist er für einen Filmproduzenten im Bereich der Auswahl aktiv. Auch im In- und Ausland ist er sehr gefragt.

Bei der Aufzählung kann einem schnell schwindlig werden. "Mein Job an der Uni ist das Wichtigste", meint der promovierte Erziehungs- und Medienwissenschaftler , der neben Regie, Schauspiel, Bühnenbild und Dramaturgie auch Theaterwissenschaften studierte. Der Diplom-Regisseur lächelt dabei und scheint zu wissen, was der Fragesteller meint. Nein, er führe kein normales Leben. "Nö - ich habe keinen Stress, denn ich mache mir keinen. Ich lasse mich auch von Schülern nicht stressen", gibt er offen zu. Seine Arbeit mache ihm Spaß und das unterscheidet ihn von vielen Menschen im Hamsterrad, die viel arbeiten. Das aber, weil sie es müssen und deshalb keine Freude daran haben. "Man muss aktiv sein", glaubt der Berliner, der früher auch schon mal eine Tatort-Nebenrolle hatte. Seine Arbeit halte ihn fit. "Ich war die letzten zehn Jahre nie krank", blickt er zurück. Das sei ein Training wie Sport. Den macht er als Läufer und Schwimmer auch. Zu Berlinale-Zeiten schaut er sich morgens ab sechs Uhr (vor dem Gang an die Uni) Filme an. 20 Streifen in drei Tagen - gar kein Problem. Man müsse sich nur auf das Wesentliche konzentrieren. "70 Prozent des Films sind belanglos", ist seine Meinung. Sich die Schlüsselszenen zu merken reiche völlig aus. Deshalb macht er seit zehn Jahren auch keine Notizen mehr. Er koordiniert gut. Und privat? Seine beiden Kinder leben nicht bei ihm. Er sei in einer Beziehung, lebe aber alleine in einer Arbeitswohnung und reise gern. Der typische Großstadtmensch, der keine Pause kennt, keine Zeit verlieren will, ist aber auch mal faul und schläft.

 Filmwissenschaftler Dr. Martin Ganguly an der Schultafel.

Filmwissenschaftler Dr. Martin Ganguly an der Schultafel.

Bis all das soweit war, musste er hart arbeiten. Das Konzept "Klassiker sehen - Filme verstehen" hatte er vor zehn Jahren angeboten. Da wollte es keiner. "Rückschläge sind kein Problem. Da muss man weitermachen", gibt sich Martin Ganguly kämpferisch.

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