Demonstration zum Weltarmutstag Demonstration gegen die wachsende Armut

Saarbrücken · Im Regionalverband lebt die Hälfte aller saarländischen Hartz-IV-Empfänger, und viele müssen zu den Tafeln gehen.

Was bedeutet es, arm zu sein? Fragt man Experten der Europäischen Union (EU), dann heißt das, über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland zu verfügen. Doch was heißt das genau? Es bedeutet, sich am Ende des Monats entscheiden zu müssen zwischen Medikamenten und Essen. Es bedeutet, als Rentner im Winter unter einer dicken Decke darauf zu warten, dass es wieder wärmer wird, weil kein Geld mehr für die Heizung da ist. Es bedeutet, mit 50 Jahren zu sterben, weil das Leben ohne dauerhafte Unterkunft und Verpflegung den Körper zerstört. So schildert es zumindest Wolfgang Edlinger, Vorsitzender der „Saarländischen Armutskonferenz“.

Der 66-jährige Diplom-Pädagoge sitzt am Tisch in der Wärmestube, zusammen mit deren Leiter, Klaus Birkenberger. Lange war Edlinger Sozialarbeiter, mittlerweile ist er in Rente. Er zeichnet ein dunkles Bild davon, was Armut im Regionalverband wirklich bedeutet. Dabei ist das Saarland und besonders der Regionalverband überdurchschnittlich stark von Armut betroffen. Nach dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aus dem Frühjahr leben in Deutschland rund 12,9 Millionen Deutsche unter der Armutsgrenze, also 15,7 Prozent aller Einwohner. Im Saarland sind es laut Bericht 17,2 Prozent Arme, also überdurchschnittlich viele. Und im Saarland wiederum hält der Regionalverband die Spitzenposition. Hier lebt ein Drittel der Saarländer, aber rund die Hälfte aller saarländischen Hartz-IV-Empfänger.

„Was die Armutsbekämpfung angeht, befinden wir uns noch im Mittelalter“, sagt Edlinger: „In den Tafeln bekommen sie das, was der Rest der Gesellschaft weggeworfen hat, das, was übrig bleibt.“ So sei es schon total entwürdigend für viele, überhaupt zu einer Tafel zu gehen. Und selbst dort bekomme nur der etwas zu essen, der nachweisen könne, dass er Hartz IV erhält. „Armut ist aber viel breiter als nur Hartz IV“, sagt er. Es gebe auch Senioren, deren Rente nicht zum Leben reiche, oder EU-Flüchtlinge, die hier, wenn sie nicht direkt Arbeit fänden, überhaupt keine soziale Unterstützung bekommen. Und sogar Menschen, die noch Arbeit haben, aber deren Geld trotzdem nicht zum Leben reiche. „Deswegen kann jeder in die Wärmestube kommen, der kommen will. Ihre Vergangenheit, Religion oder Herkunft ist uns vollkommen egal“, sagt Klaus Birkenberger. Das Essen werde hier nicht verschenkt, es sei nur sehr, sehr günstig. Denn auch das sei ein Teil dieser Würde, dass man sein eigenes Essen bezahle und nicht zur „Armenspeisung“ komme. Deshalb würden die Menschen hier auch als Gäste betrachtet, nicht als Bettler. So entstehe auch ein soziales Gefüge untereinander, das viele zu schätzen wissen und auch deswegen immer wieder kommen, nicht nur wegen des günstigen Essens.

Einer von ihnen ist Volker Käfer, ein 58-Jähriger in Lederjacke, mit grauen Haaren und dünnem Schnurrbart. Im Heim aufgewachsen, wurde er mit 13 Jahren von seinem Erzieher mehrere Monate lang missbraucht. Das habe ihn psychisch zerstört, mit 17 Jahren begann er zu trinken, mit 18 war er zum ersten Mal obdachlos. Er blieb nicht sein ganzes Leben obdachlos und in Armut, sondern hatte immer wieder mal einen Job. Er wurde jedoch immer wieder rückfällig und schaffte es nie, seine Arbeit zu behalten. Genauso wenig wie seine Beziehungen. Das Trauma von damals habe ihn beziehungsunfähig gemacht – unfähig, jemandem richtig zu vertrauen.

„Sobald mir jemand zu nahe kommt, mache ich alles, dass diese Beziehung kaputtgeht“, sagt er. Etliche Therapien konnten ihm nicht helfen, auch heute noch bricht er mit bebendem Gesicht in Tränen aus, wenn er über seine Vergangenheit spricht. Ab November soll er wieder Hartz IV erhalten, also wieder in Armut leben. Auch dass er für seinen Missbrauch vor einigen Jahren 20 000 Euro Entschädigung erhielt, konnte ihm nicht helfen. „Ich hab‘ damals zu denen gesagt: ,Ihr könntet mir 20 Millionen geben, und das würde auch nicht mehr ganz machen, was mir dadurch alles kaputtging‘“, erzählt er.

Letztendlich gibt es ganz viele Wege in die Armut. Sei es wie bei Volker Käfer die Alkoholsucht, die durch ein Trauma hervorgerufen wurde, oder einfach Unglück, wie beim Verlust der Arbeit. Deswegen sei es so wichtig, auf die Menschen als Individuen einzugehen, und sie nicht als „die Armen“ zu betrachten, meint Edlinger. Er wolle nicht nur über diese Gruppe reden und für sie fordern, sondern gemeinsam mit ihnen erarbeiten, was ihnen fehlt. Dadurch erhielten diese Menschen eine Lobby, um irgendwann wieder am sozialen Leben teilzunehmen. Und dafür gehen sie auch auf die Straße — unter dem Motto „Reichtum verpflichtet“. Denn all das, was er aufgezählt hat, dürfte es im reichen Deutschland eigentlich nicht geben, sagt Edlinger.

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