Von Nachtigallen, der Todesstrafe und dem Bekenntnis zur Wurst

St Ingbert · Es ist nicht zu übersehen: Rezitationsabende sind – verglichen mit Musikveranstaltungen – eine schwere Kost. Sie fordern den Hörer zum Mit- und Nachdenken heraus. Wenn sie darüber hinaus noch zum kulinarischen Ereignis werden, so ist dies dem Rezitator zu verdanken, wie am Sonntagabend bei der VHS St. Ingbert.

 Gerd Schlaudecker (hier ein Archivfoto) rezitierte im St. Ingberter Kulturhaus. Foto: Jörg Martin

Gerd Schlaudecker (hier ein Archivfoto) rezitierte im St. Ingberter Kulturhaus. Foto: Jörg Martin

Foto: Jörg Martin

Gerd Schlaudecker las im zweiten Teil seiner "Erzählungen aus aller Welt" Texte von Kafka, Tschechow, Wilde, Langgässer, Hesse und Lenz. Das Programm war kurzweilig, von der Parabel über das Märchen bis zur Parodie und Satire reichte das Spektrum der Gattungen, aber auch der Inhalt war abwechslungsreich, mal tragisch, mal humorvoll und hintergründig. Begonnen hatte Schlaudecker mit einer der berühmten Parabeln Kafkas "Vor dem Gesetz", ein fast klassisch zu nennender Text, geht es doch um den vergeblichen Kampf einzelner gegen scheinbar unfehlbare staatliche Machtinstrumente. Tschechows Erzählung "Die Wette" greift ein ebenfalls aktuelles Thema auf, die Todesstrafe , in diesem Fall verpackt in eine tragische Wette zwischen einem Bankier und einem jungen Juristen.

Weiter spannte sich der Bogen von Oscar Wildes Erzählung "Die Nachtigall und die Rose" einem modernen Märchen mit Kultstatus aus der Viktorianischen Epoche über Elisabeth Langgässers "Saisonbeginn", einer Geschichte, welche die Autorin als mutige Christin und Nazigegnerin ausweist, bis hin zu Hermann Hesses schrulliger Erzählung "Doktor Knögles Ende" und der rührenden Geschichte "Die Nacht im Hotel" von Siegfried Lenz .

Eine echte Entdeckung - vermutlich für viele Zuhörer - war Hermann Hesses kurze Erzählung: Der Dichter verarbeitet hier seinen Abschied vom Vegetarismus, dem "Zurück auf die Bäume" und verbindet ihn mit einem eindeutigen Bekenntnis zu Wurst und Fleisch. Hesse schildert mit bissiger Kritik die Auswüchse des Vegetariertums und der Reformbewegung. Dr. Knögle, ein Philologe, ist aus Gesundheitsgründen zum Vegetarier geworden. Er reist in eine Kommune von Gesundheitsaposteln nach Kleinasien, wo er allen möglichen Abarten von "Frugivoren" (Früchtefresser) und "Vegetariern der strengen Observanz" begegnet, auch Jonas. Dieser Jonas hat sich sogar von der Sprache verabschiedet, lebt auf Bäumen und verachtet jeden, der nicht so lebt wie er. Knögle begeht den Fehler, ihn zu reizen. Wütend erwürgt Jonas den frechen Doktor, auf dessen Grabstein steht: "Dr. Knögle, Gemischtkostler aus Deutschland".

Eine tolle Geschichte - nicht nur für Hesse-Fans. Sie beweist, wie modern Dichtung sein kann. Jedoch ist sie nicht zu empfehlen für Vegetarier , die Veganer werden wollen. Schlaudecker verstand es, mit seiner Stimme und seinem Sprechduktus seine Zuhörer 90 Minuten in seinen Bann zu schlagen. Er kann zwar nicht mehr der "Vorleser der Nation" werden - das ist der unvergessene Gerd Westpfal - aber er wird immer der "Vorleser der Region" bleiben.

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