St. Ingbert Fünf Glocken für ein Stück Ewigkeit
St. Ingbert · Die Bronzekolosse von St. Hildegard läuten nicht nur den Gottesdienst ein. Glockenkundler Patrick Sycha hat sie dabei aufgenommen.
163 Stufen führen hinauf in den Glockenturm der Kirche St. Hildegard in St. Ingbert. Christel Nothof hat sie mal gezählt, erzählt die Küsterin. An diesem Tag erklimmen sie neben Christel Nothof, Carsten Neuheisel, Vorsitzender des Pfarreirates, und Patrick Sycha. Der 28-Jährige aus Bexbach ist Glockenliebhaber.
Aus Langeweile hat Patrick Sycha, der eigentlich Schreiner ist, sich mal ein Video mit Glockenläuten angeschaut und Gefallen daran gefunden. Seit fast neun Jahren zeichnet er die Klänge der Glockengeläute aus den Kirchtürmen der Region nun selbst auf. Sammelt sie auf dem Videoportal Youtube. Sein Kanal zählt bereits 800 Abonnenten. In St. Hildegard war er schon zwei Mal. Das ist allerdings schon ein paar Jahre her. Heute hat er sich mit einer neueren Weitwinkelkamera bewaffnet. Die blaue Sporttasche mit Equipment geschultert, geht es die Wendeltreppe des fast 90-jährigen Baus hinauf. Hier oben ist selten jemand. Früher hatten die Messdiener hier noch einen Raum und die Kommunionskinder durften sich die Glocken auch immer noch anschauen. Das geht schon lange nicht mehr – aus Sicherheitsgründen. Inzwischen fühlen sich hier die Spinnen am Wohlsten. Eine Kirchenmaus lässt sich nicht blicken, umso mehr Wollmäuse tummeln sich in den Ecken des historischen Dachgeschosses. Ein Kasten des Nabu erinnert daran, dass hier mal Falken gebrütet haben. 1928 wurde der Grundstein gelegt, bereits 1929, dem Sonntag nach der Feier des 750. Todestages der Heiligen Hildegard wurde die Kirche durch den damaligen Bischof Ludwig Sebastian geweiht. Der Aufstieg in den Glockenturm wirkt fast wie eine Reise in eine andere Zeit. „Mit einem historischen Kalender aus dem Jahre 1986“, scherzt Carsten Neuheisel und zeigt auf das aus der Zeit gefallene Stück an der Wand. Der Raum ist leer. Ein paar alte Holztische und Holzstühle. Aber mittendrin steht ein auffälliges blaues Häuschen. Hinter den Schranktüren versteckt sich die Mechanik der Turmuhr. Verkettungen unter der Decke, schwere Gewichte, die in einem Schacht baumeln, dessen Boden nicht zu sehen ist und kleine Motoren lassen schon erahnen, was ein Stockwerk drüber vorzufinden ist. Eine weitere Holztreppe, sie knarzt bei jedem Schritt, führt dorthin. Fünf massive Bronzeglocken hängen dort an Stahlträgern, hoch über dem nördlichen Stadtteil. Eine davon ist die größte Glocke St. Ingberts: Die Christkönigs-Glocke. Gestimmt in einem tiefen gis0 bringt sie stolze 4550 Kilogramm auf die Waage und hat einen Durchmesser von fast zwei Metern. Das weiß der selbst ernannte Glockenexperte aus dem Kopf. „Aber nur knapp, die Glocke St. Theodor in St. Josef, ist nur minimal kleiner“, wirft Neuheisel ein, der seit 2011 Küster der Kirche ist.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden von den damals vier Glocken drei zu Rüstungszwecken ohne Entschädigung abmontiert und eingeschmolzen. Nur die kleinste Glocke durfte die Kirche behalten. „Im Saarland gibt es nur noch ein originales Geläut“, weiß Patrick Sycha. „Das hängt in Spiesen-Elversberg.“ In St. Hildegard, wie in einigen anderen St. Ingberter Kirchen sind die Glocken 1953 zurückgekehrt. Der Stadtrat hatte damals beschlossen, die gestohlenen Glocken zu ersetzen, legte sogar noch eine drauf. Nun hängen in dem Turm: Christus König (4550 Kilo), St. Georg (2700 Kilo), Marienglocke (1350 Kilo), St. Hildegard (800 Kilo) und Barbara (580 Kilo). Jeweils mit einer individuellen Inschrift versehen.
21 Glocken stiftete die Stadt St. Ingbert insgesamt an verschiedene Kirchen der Pfarrei Heiliger Ingobertus, alle aufeinander abgestimmt. Allerdings unter der Bedingung, dass sämtliche Glocken an jedem Samstag und an allen Tagen vor Feiertagen um 18 Uhr zusammen läuten sollen. Und an diese Bedingung halten sich die Kirchen noch immer.
Patrick Sycha macht sich für seine Aufnahmen bereit. Er möchte die Klänge für die Nachwelt festhalten. Wie sinnvoll seine Arbeit ist, dafür ist gerade die Stadt St. Ingbert Zeuge. Das Feuer, das 2007 in St. Josef wütete, hat auch die Glocken zerstört. „Leider habe ich vom alten Geläut keine Aufnahme“, bedauert der 28-Jährige. Er platziert zwei Baustrahler im Glockenstuhl, positioniert die Weitwinkelkamera auf einem staubigen Hocker vor der Georgs-Glocke. Das Tonaufnahme-Gerät stellt er ein Stockwerk tiefer auf einem Holztisch ab. So werde die Aufnahme besser, sagt er mit der Erfahrung, die er in neun Jahren und nach mehreren Hundert Aufnahmen gesammelt hat. Außerdem tausche er sich auch mit anderen Glockenfreunden, überwiegend über das Internet, aus. Dann zucken plötzlich alle zusammen – bis auf Küsterin Nothof. Sie war auf den Stundenschlag der kleinen St. Hildegard vorbereitet. „Ich hab das schon so oft gehört und gesehen“, sagt sie. Seit über 20 Jahren gehe sie ihrer Aufgabe im Gotteshaus nach, schätzt Küster-Kollege Neuheisel.
Und dann geht es los. Ein grüner Motor am Boden des Turms bringt den ersten Klöppel in Schwung. Die Glocke bewegt sich ein paar Mal hin und her, bevor der erste Ton erklingt. Ein fis1, denn so ist die Hildegards-Glocke gestimmt. Patrick Sycha nimmt sie erst alle einzeln auf. Eine nach der anderen beginnt zu schwingen, läutet für eine kurze Zeit, dann bremst er sie wieder. Vor dem großen Finale überprüft er noch einmal die Kamera. Passt alles. Dann fangen die Klöppel an, gleichzeitig zu schwingen. Ein Wuschen erfüllt den Raum, er fühlt sich plötzlich kleiner an als vorher. Der Boden beginnt zu vibrieren unter dem Schall der Bronzekolosse. Staub rieselt durch die breiten Fugen. Fis, dis, ein tiefes und ein höheres gis und h. Insgesamt aber recht tief läutet das Fünfer-Gespann. St. Hildegard ist eine rustikale Kirche, von außen kleiden rote Backsteine den Turm, von innen erinnert er an einen Grubenstollen. „Deshalb passen die Glocken hier so gut“, findet Neuheisel. Über 20 Minuten dauert es, bis wieder Ruhe einkehrt. Zurück bleibt ein andächtiges Gefühl. „Man hört in die Ewigkeit hinein, hat ein Küster von St. Arnual mal gesagt und dem schließe ich mich an“, sagt Sycha. Die Zielgruppe seiner Aufnahmen ist vor allem die ältere Generation, heimatverbundene Menschen, die die Glocken noch wertzuschätzen wissen. Das widerspricht sich manchmal. Als er an einem Freitag in der Kölner Clarenbachkirche eines seiner Lieblingsgeläute erklingen lässt, beschweren sich eben genau diese Geläut-liebenden Anwohner über das außerplanmäßige Läuten. Damit kann er Leben „Wartungsläuten muss es ja auch geben.“
Und wenn ihm etwas auffällt, etwa wenn ein Klöppel nicht richtig schwingt oder wie in St. Hildegard eine Bremse nicht richtig funktioniert, dann gibt Sycha das an die Pfarrei weiter. Und die Pfarreien zu unterstützen liegt ihm besonders am Herzen. Deshalb hat er im Frühjahr seine Organisation PS Campanologie gegründet. Er organisiert Glockenkonzerte, wie Anfang Juli zum 100. Geburtstag der Glocken in der Johanneskirche in Saarbrücken. Spenden, die bei den Konzerten eingenommen werden, sollen der Gemeinde zugutekommen. Und das ist auch der Plan für die Zukunft. Und wer glaubt, Glocken wären das außergewöhnlichste Hobby des Bexbachers, hat sich vielleicht getäuscht. Patrick Sycha fotografiert auch gerne Omnibusse.