Para-Boccia Mit großen Würfen zum sportlichen Erfolg

St. Ingbert/Saarbrücken · Polen, Portugal, USA – Für ihr Hobby sind Boris Nicolai und Anita Raguwaran viel unterwegs. Manchmal scheitern sie auf dem Weg zur Arbeit.

 Freitags trainieren Anita Raguwaran und Boris Nicolai an der Landessportschule Para-Boccia.

Freitags trainieren Anita Raguwaran und Boris Nicolai an der Landessportschule Para-Boccia.

Foto: Iris Maria Maurer

In der Halle 40 der Landessportschule werfen vier Hände unermüdlich blaue und rote Bälle durch die Luft. Ihr Ziel ist ein einzelner weißer Ball. Ein lautes Plopp-Geräusch ertönt jedes Mal wenn das weiche Leder der Bälle auf den harten Hallenboden trifft, dem die unzähligen Turnschuhe der vielen Jahre Sporttraining anzusehen sind. Boccia heißt das Spiel, das die Homburgerin Anita Raguwaran und der St. Ingberter Boris Nicolai hier jeden Freitag trainieren. Und ganz genau: Para-Boccia.

Para-Boccia ist eine ausschließlich paralympische Sportart und wird in der Halle in einem 12,5 Meter langen und sechs Meter breiten Feld gespielt. Vier Klassen gibt es, abhängig vom Einschränkungsgrad der Spieler. Es geht darum, die eigenen sechs Bälle näher an einen weißen Zielball, den Jackball, zu platzieren als der Gegner. Dafür hat jeder Spieler vier Minuten Zeit. Und genau das versuchen die beiden Athleten des deutschen Kaders gerade. Jedoch nicht gegeneinander, im Training übt jeder für sich. Sie sitzen in ihren Rollstühlen nebeneinander, eine Tasche voll Bällen in unterschiedlichen Farben und Stärken auf dem Schoß und werfen jeder für sich rote und blaue Bälle. Für den Sport hat Boris Nicolai einen speziellen Rollstuhl. Der ist schmaler und handlicher als das 170 Kilo schwere elektrische Gerät, dass er im Alltag benutzt. Damit hat er mehr Freiraum zum Werfen. Er schwingt seine Arme neben den Rädern, lässt den Ball so los, dass er direkt neben dem weißen landet, ein anderes Mal klettert seine rote Kugel noch über eine blaue drüber, und wieder ein anderes Mal spielt er einen roten Ball so an, dass er weiter vom weißen wegrollt als sein blauer. Sind alle Bälle geworfen, hilft Mutter Kerstin Nicolai beim Einsammeln. „Freitagsabends ist es hier immer ganz nett“, sagt sie lächelnd und lässt es sich nicht nehmen, auch mal eine Partie mitzuspielen. Mittwochs trainieren Anita Raguwaran und Boris Nicolai in der Behinderten und Rehabilitationssportgruppe in Gersweiler.

Früher spielte Boris Nicolai Tennis. Bis sich die ersten Anzeichen seiner Muskelerkrankung bemerkbar machten. Damals wusste er noch nicht, was es ist. Die Diagnose Muskeldystrophie erhielt er mit 16. Typisch für die Erkrankung sind Lähmungserscheinungen in Schulter und Beckenbereich. Damals konnte er aber noch laufen. Machte eine Ausbildung zum Technischen Zeichner. Später schulte er um zum Maschinenbautechniker. Anfangs, so erzählt der heute 32-Jährige, wurde sein Zustand rapide schlechter, immer schwerer wurden die Arme. Immer weniger Kraft blieb in den Beinen. Heilen können Ärzte seine Krankheit nicht, jedoch geht es ihm mittlerweile nur noch schleichend schlechter. Kurz nach der Diagnose war er weiter im Tennis aktiv, als Trainer, befriedigend war das nicht, sagt er: „Man will ja auch mitmachen.“ Im Urlaub auf Teneriffa – „in einem barrierefreien Hotel“, ergänzt Mutter Kerstin Nicolai – wurde Boccia angeboten. „Er hat fast mehr Zeit beim Boccia verbracht als am Strand“, erinnert sie sich. Eine neue Leidenschaft war gefunden. Damit hält er sich fit. Und mit Krankengymnastik und Reha. Bei einem der Reha-Aufenthalte in Göttingen traf er auf Anita Raguwaran. „Wir haben festgestellt, dass wir beide aus dem Saarland kommen“, erzählt sie. Anita Raguwaran hat eine ähnliche Muskelerkrankung, wusste davon jedoch schon seit ihrer Kindheit. Sie kann zwar noch ein wenig stehen, hat sich dennoch vor drei Jahren für den Rollstuhl entschieden. „In der Schule war ich noch zu Fuß unterwegs. Das schaffe ich heute nicht mehr. Erst als ich auf den Rollstuhl umgestiegen bin, habe ich gemerkt, was das heißt. Ich bin jetzt viel schneller unterwegs, kann eine halbe Stunde länger schlafen morgens“, bevor sie zur Arbeit in die Homburger Klinik muss. Sie hat Medizin studiert und arbeitet seit Januar als Assistenzärztin in der Nuklearmedizin.

Der Weg dorthin ist nicht immer einfach. So staunte die 28-Jährige nicht schlecht, als eines Morgens am Homburger Hauptbahnhof der Aufzug kaputt war. Gestrandet an Gleis 3 also. Sie entschied sich, weiter nach Landau zu fahren, stieg dort in einen Zug aus Kaiserslautern um mit dem Wissen, dass diese Züge in Homburg an Gleis 1 landen, dort wo sie zum Verlassen des Bahnhofs keinen Aufzug braucht. Zwei Stunden hat der Umweg gekostet. „In Deutschland muss man bis zum Vortag um 20 Uhr ankündigen, wenn man Zug fahren möchte, dann stellt die Bahn eine sogenannte Mobilitätshilfe zur Verfügung“, erklärt sie. Das praktische Jahr ihrer Medizinerausbildung hat Anita Raguwaran in der Schweiz absolviert. Dort sei es einfach gewesen. „Eine Stunde vor Fahrtbeginn musste man anrufen. Dann kamen die Helfer zu dem Bahnhof, an dem man war. Ich konnte also auch mal spontan mit Freunden weggehen.“ In Deutschland quasi unmöglich. Zumindest mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Etwas mehr Freiheit hat Freund Boris. Der hat nämlich ein Auto. Der dunkle Van wurde speziell für ihn umgebaut. Ein Knopfdruck und das Auto wirft sich förmlich zur Seite, die Seitentür geht automatisch auf, und eine Rampe fährt aus. Über die fährt Boris Nicolai mit seinem Elektro-Rolli auf den freien Platz vor dem Lenkrad. Das Innere sieht mehr nach Flugzeug aus als nach Auto. Gas gibt er mit einem Schubhebel wie im Flugzeug, gelenkt wird mit einem Joystick. So kommen die beiden nicht nur freitags zur Uni, sondern auch nach Gersweiler, wo sie mittwochs trainieren.

Das Training zahlt sich aus. Schließlich starten die beiden für Deutschland auf internationalen Turnieren, etwa in Polen, Portugal oder den USA. So steht etwa eine Weltmeisterschaft in Liverpool an im August. Und die Paralympics 2020? Davon träumt Boris Nicolai, die aktuelle Nummer 23 der Weltrangliste, auf jeden Fall. Die besten 16 fahren nach Tokio.

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