Gastbeitrag Matthias Stolz St. Ingbert, wach auf! Und bleib dehämm!

St. Ingbert/Berlin · Ein Gastbeitrag des gebürtigen St. Ingberter Journalisten Matthias Stolz aus Berlin blickt auf seine Heimatstadt in der Corona-Krise. Der „Zeit“-Redakteur macht sich vor allem Sorgen um die über 3000 alten Bürger der Mittelstadt.

 Ein Eindruck vom verkaufsoffenen Sonntag in der Fußgängerzone am vergangenen Sonntag. Gastautor Matthias Stolz sieht die Veranstaltung angesichts der Corona-Krise äußerst kritisch.

Ein Eindruck vom verkaufsoffenen Sonntag in der Fußgängerzone am vergangenen Sonntag. Gastautor Matthias Stolz sieht die Veranstaltung angesichts der Corona-Krise äußerst kritisch.

Foto: Petra Pabst

Ich bin in St. Ingbert geboren und dort auf die Schule gegangen, ich bin ein St. Ingberter Bub, wie man ja wohl sagt, und obwohl ich schon seit mehr als 25 Jahren nicht mehr hier wohne, hat sich an einem nichts geändert: Hier habe ich fast alle meiner Onkels und Tanten. Sie sind nicht mehr die jüngsten, ich bin ja auch schon fast mehr Ende als Mitte 40. Ich kenne hier viele ältere und alte Leute, so viele wie eigentlich nirgendwo. Und vor allem wohnen hier meine Eltern. Darum lese ich in diesen Tagen der Pandemie noch intensiver die Nachrichten aus meiner alten Heimatstadt. Aus Sorge. Und aus der Ferne.

Jeder Sohn, jede Tochter in Europa, behaupte ich mal, sorgt sich. Redet mit den Älteren und Alten, hält Verbindung, wie es lange nicht mehr der Fall war. Ich merke das auch daran, dass ich seit mehr als acht Tagen wieder täglich die „Saarbrücker Zeitung“ lese, besonders intensiv: den St. Ingberter Teil, „de Dengmadder Dähl“, wie das bei uns zu Haus immer hieß.

Ich hatte immer schon mal Heimweh. Viele Saarländer, die mal weg waren, kennen das. Aber so wie jetzt, war es noch nie. Auch, weil ja klar ist: Man kann jetzt nicht mal schnell heim mit dem ICE. Das wäre zu gefährlich für die Alten. Plötzlich liegt da ein Meer zwischen Berlin, wo ich wohne, und St. Ingbert, wo meine Anverwandten sind.

Ich blicke noch mal kurz zurück, was ich alles las in den letzten Tagen, es geht ja so schnell jetzt alles, unvorhersehbar schnell, selbst für mich, einen etwas Jüngeren. Wie muss das wohl für die Alten sein? Oder sind die nicht so aufgewühlt, weil sie schon mehrere Seuchen erlebt und überlebt haben? Weil sie weiser sind als man es ist im 47. Jahr seines Leben? Erst in den letzten Tagen, man telefoniert ja jetzt so viel in den Familien, erfuhr ich, dass meine Mutter 1951 mal wegen Polio schulfrei hatte für zwei Monate. Und meine Tante väterlicherseits erinnerte sich, dass von sieben Geschwistern, kurz nach Kriegende, vier Diphterie hatten. Die Oma sei damals zu Fuß bis nach Sulzbach gelaufen, um ihre kranken Kinder zu sehen.

Also, nochmal im Zeitraffer, die Corona-Krise, wenn man die großen Artikel im „Dengmerter Dähl“ las: Zunächst las ich natürlich vom Fall des SAP-Mitarbeiters und erschrak. Dann las ich, dass nur drei Mitarbeiter der SAP in Quarantäne kamen, angeblich bestehe für alle anderen kein größeres Risiko als für den Rest der Stadt. Ich dachte: Nur drei, wirklich so wenige? Das kann doch nicht sein. Waren denn nicht mehr Mitarbeiter im gleichen Haus? Die können sich doch alle anstecken, auch ohne körperlichen Kontakt. Ich war verunsichert. Dann las ich, dass der Stadtrat Ausschüsse seltener tagen lasse. Als Schutzmaßnahme gegen die Seuche. Ich dachte: Ist das alles? Dann las ich, dass es ein „Hauptziel“ sei, dass weiter Personalausweise und Urkunden im Rathaus ausgegeben werden. Das war mehr als nur Verwunderung.

Dann las ich, dass es keinen Grund geben solle, Schulen zu schließen. Gut, das wurde dann zum Glück sehr schnell überholt von der Geschichte. Und dann passierte das, was dazu führte, dass ich diesen Artikel schreiben wollte. Denn dann hörte ich per Whatsapp von einem Bekannten, dass es, am 15. März noch mal einen verkaufsoffenen Sonntag geben solle in St. Ingbert. Wirklich? Das kann nicht sein, dachte ich. Das muss ein makaberer Scherz sein. War es nicht. Mir wurde schlecht, so verzweifelt war ich.

Dann las ich am Montag, dass dieser verkaufsoffene Sonntag offenbar ganz, ganz toll war. Sogar Kinder sollten gelacht haben und Hunde gebellt. Ein einziges Idyll! Und die Corona-Krise wurde in Gänsefüßchen geschrieben in dem Artikel. „Corona-Krise“, so als gäbe es sie nicht. Gibt es das, Corona-Leugner? Mich packte die Wut.

Muss man wirklich noch erklären, warum man sich in diesen Zeiten eben gerade auf keinen Fall dicht an dicht in der Innenstadt versammeln sollte? Es ist, wie wenn man auf einer brennenden Wiese zum Schwenkbraten einladen würde. Und weil diese Idee so töricht war, haben die Städte in Deutschland, die auch einen verkaufsoffenen Sonntag geplant hatten, diesen Plan weise abgesagt. Wie es sich gehört. Und dann las ich noch, am gleichen Montag nach diesem Sonntag, auf Instagram, dass nun den Bürgern zugerufen wurde, sie sollen jetzt doch nicht mehr so oft ins St. Ingberter Rathaus kommen. Zu gefährlich. Da wurde lange erklärt, was zum Sonntags-Volksfest in der Innenstadt am Tag zuvor nicht erklärt wurde. Dazu fehlen mir bis heute die Worte.

Aber natürlich ist diese schreckliche Krise nicht die Zeit, jemanden Schuld zu geben für irgendwelche Fehler. Das ist nicht der Grund, weshalb ich diesen Artikel schreibe. In der Not, das ist keine Floskel, muss man zusammenhalten. Das wissen die Alten sicher besser als ich Halbalter.

Ich schreibe diesen Artikel, weil ich möchte, dass St. Ingbert endlich aufwacht: „Ihr Leit, werren wach!“ Diese Krise darf man nicht in Gänsefüßchen setzen. Sie ist sogar mehr als eine Krise: eine Katastrophe. In meiner St. Ingberter Kindheit und Jugend wurden die immer nur geprobt, dann gingen die Sirenen, aber es war nie ernst. Jetzt ist sie da, die Katastrophe. Worum ich am allermeisten Angst habe? In St. Ingbert wohnen etwa 3260 Frauen und Männer, die älter sind als 80 Jahre. Im Rathaus wird man die Zahl ganz genau wissen, ich hab nicht die Zeit, sie ganz genau zu erfragen heute. 3260, das sind, wenn man sich die Alten noch mal in Schulklassenzimmer denkt, etwa 130 Klassenzimmer voller alter Männer und Frauen. Hat St. Ingbert so viele Klassenzimmer überhaupt? Die sind alle in größter Gefahr, können sehr schwer krank werden, die können sterben, und zwar, wie man weiß, auf einsame und schreckliche Weise, wenn sie das Virus kriegen. Sterben müssen wir alle? Aber so schnell und so viele? Und so?

Wenn die Alten, sie müssen ja noch nicht mal alle 80 sein, der Tod holt sich seine Opfer schon früher, das Virus zu großen Teilen kriegen, wie es die führenden Virologen für alle Erdenbewohner voraussagen, können Hunderte St. Ingberterinnen und St. Ingberter sterben. Dann wird es sein wie in Italien: Die Zeitungen werden dicker sein, wegen der ganzen Todesanzeigen an einem einzigen Tag. Das ist hart, und das ist schrecklich. Und weil es so schrecklich ist, wünsch ich mir so sehr, dass wir Jüngeren uns noch mehr anstrengen, die Älteren und Alten jetzt zu schützen.

3260 alte Frauen und Männer und St. Ingbert. Man sieht sie samstags nicht alle auf dem Markt, und man sah sie, als die Kirchen noch aufhatten, auch nicht alle in den Kirchen. Viele können ja nicht mehr so gut laufen und manche auch gar nicht mehr, und es glauben ja auch nicht alle an den lieben Gott und die Kirche. Aber die Alten haben uns so viel zu sagen oder mitzuteilen. Und die Familien hängen doch an ihnen. Die meisten sind Mütter, Väter, mehrfache Omas, mehrfache Opas, vielfache Uromas, vielfache Uropas. Wenn diese Alten uns zu Jüngere zu halbwegs vernünftigen Wesen erzogen haben, haben sie es nicht verdient, dass wir ihnen mit dieser Vernunft jetzt wenigstens so gut es geht helfen? Doch, klar, haben sie. Da wird niemand widersprechen. Aber jeder Erwachsene St. Ingberter, der am Sonntag zum fröhlichen Bummel war in der Innenstadt und versuchte, die fiese Krankheit wegzulächeln, der war nicht vernünftig. Kein bisschen.

Ich bin kein Lokalpolitiker, was haben die nun für einen schweren und anstrengenden Job. Und ich weiß nicht alles besser als die Gewählten. Ich ja noch nicht mal mehr Bürger der Stadt, ich bin nur ein ehemaliger Bürger der Stadt. Aber ich habe Gedanken, die ich nicht nur für mich denken will.

Das fällt mir zum Beispiel ein, am heutigen Tag, Mittwoch: Stimmt es, dass derzeit noch immer – sagt mir, wenn es nicht stimmt – Pendler aus Lothringen, wo die Seuche noch krasser tobt als auf dieser Seite der Grenze, in saarländische Städte ein- und auspendeln dürfen? Dieses Herumgefahre, das neulich noch harmlos war, ist heute todbringend. Wäre es jetzt die Stunde, dass St. Ingberter Unternehmen heute noch beschließen: Wir stellen jeden Mitarbeiter aus Lothringen frei, auf den wir verzichten können. Jeder, der nicht gerade Feuerwehrmann ist oder Ärztin oder Pfleger. Der normale Büroangestellte oder Handwerker soll nicht mehr pendeln und damit, möglicherweise, das Virus rein oder raus zu schleppen. Ich wäre stolz auf eine solche Unternehmensinitiative. Vielleicht nähmen sich sogar andere Städte im Saarland ein Vorbild? Wenn, dann schnell.

Vielleicht gibt es jetzt auch private Ideen, wie man Familien entlasten kann, in denen Vater oder Mutter Ärztinnen sind oder Pflegerinnen und Pfleger im Krankenhaus. Das, was die bald leisten müssen, wird über alle Maßen anstrengend sein. Vielleicht kann man für diese Familien kochen, einkaufen, ihren Hund Gassi führen. Bestimmt passiert das auch schon. Es passiert ja schon so viel Gutes. Ich weiß von dem Mann meiner Cousine, dass er für seinen Onkel und Schwiegermutter und deren Schwester, die meine Tante ist, einkauft. Ich weiß von meinen Cousinen, dass sie, wo ich so weit weg bin, einkaufen gehen für meine Eltern. Ich bin ja so froh. Von diesen Geschichten müsste man viel mehr wissen, damit es andere auch tun für ihre Alten. Vielleicht schreibt man unter #bleibdehaemm. Ich kenne mich nicht so aus mit Hashtags, dass müssen die Jüngeren machen. Die dürfen nicht dösen, nur weil sie vielleicht nicht krank werden. Die müssen jetzt helfen.

Vielleicht sucht man aktiv nach Alten in der Nachbarschaft, hört sich um nach denen, die jetzt nicht mehr in Supermärkte gehen sollten. Die müssen nicht mal über 80 sein, es reicht, wenn sie über 60 sind und nicht mehr ganz gesund (ich tue auch so etwas in Berlin, die Anfrage läuft, es geht bald los). Den Jüngeren kann ich sagen: Seid hartnäckig, die Alten nehmen solche Angebote zu ihrem Schutz oft nicht sofort an. Die sind so erzogen! Die wollen tapfer sein und sich selbst helfen. Aber das geht jetzt nicht mehr. Und Ihr Alten, nehmt die Hilfe gefälligst an, seid Ihr jetzt auch nicht unvernünftig bitte. Und wenn Euch keiner fragt, dann fragt Ihr in der Nachbarschaft. So wie man’s im Bus macht: „Entschuldigung, junger Mann ...“ Dann machen die jungen Männer und jungen Frauen das schon.Und Ihr Alten: Hört jetzt auf die Jungen, die vernünftig sind und es gut mit Euch meinen! Wenn Euch die Tochter oder der Sohn sagt: „Bleib dehämm“, dann „bleiwen ah dehämm“.

Diese Katastrophe kitzelt aus den Leuten das Gute hervor. Ich kann es nicht mehr lesen, dass angeblich alle nur hamstern. Das ist doch nicht wahr! Die leeren Regale sind leicht zu fotografieren. Das kostet keine Mühe, man muss nur in den Supermarkt als Fotograf. Die helfenden Hände zu fotografieren, das ist schon viel schwerer. Und das Bild davon schafft es nicht auf die Titelseiten. Wahrscheinlich kommen andere, die St. Ingbert heute viel besser kennen als ich, auf noch viel bessere Ideen. Vielleicht postet man diese Ideen auf der Facebook-Seite der Stadt. Und dazu muss keiner das Haus verlassen. Vielleicht passiert etwas. Vielleicht wacht endlich St. Ingbert auf. Auch wenn es für vieles jetzt schon zu spät ist.

Woran ich auch oft dachte in den letzten Tagen: Wo haben zum Beispiel die vielen Menschen aus St. Ingbert, die aus Italien stammen, eine Stimme? Ich weiß, wovon eine Freundin aus dem Bliesgau jetzt so erzählt. Man hält sie kaum aus, diese Geschichten. Im „Dengmadder Dähl“ las ich zuletzt jedenfalls nichts von ihnen. Es wäre aber gut, von ihnen zu hören. Nicht nur die nackte verstörende Nachricht, dass den Über-80-Jährigen in vielen italienischen Städten schon nicht mehr geholfen wird in den Krankenhäusern. Die übergibt man dann gleich ins Hospiz. Schlimm wäre es, wenn niemand das Schicksal dieser St. Ingberter mit den Liebsten in Italien kennt. Dann ist der, der italienisch spricht als Muttersprache oder Zweitsprache, plötzlich der, vor dem man Angst hat, statt der, mit dem man fühlt.

Das wäre eine gute Übung in Mitgefühl, denn bald wird es auch im Saarland, sicher auch in St. Ingbert, erste Tote geben. Es tut mir leid, das zu sagen. Wenn ich falsch läge mit dieser Prognose, was gäbe ich dafür? Mein Verstand sagt mir, wenn ich in die Welt schaue, weg von St. Ingbert in die anderen Länder: Wir können nicht mehr alle retten, das wäre Schönmalerei. Aber wir können von jetzt an das Menschenmögliche machen. Das geht noch. Und das wird noch vielen helfen.

Autor Matthias Stolz, in St. Ingbert geboren, arbeitet in Berlin als Redakteur beim „Zeit-Magazin“. Er hat die Rubrik „Deutschlandkarte“ und den Begriff „Generation Praktikum“ erfunden. Zudem ist er als Buchautor tätig.

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