"Es war nichts mehr von ihm da"

Wiebelskirchen. "In tiefer Trauer und schwerem Herzeleid" nahm die Wiebelskircher Witwe Hilde Kurz in der Todesanzeige Abschied von ihrem Mann, dem Damenschneider Ernst Paul Kurz, der am 10. Oktober 1944 in der Schlacht an der Scheldemündung in den Niederlanden gefallen war. Er wurde 37 Jahre alt und war seit 1939 in diversen Ländern im Krieg gewesen

Wiebelskirchen. "In tiefer Trauer und schwerem Herzeleid" nahm die Wiebelskircher Witwe Hilde Kurz in der Todesanzeige Abschied von ihrem Mann, dem Damenschneider Ernst Paul Kurz, der am 10. Oktober 1944 in der Schlacht an der Scheldemündung in den Niederlanden gefallen war. Er wurde 37 Jahre alt und war seit 1939 in diversen Ländern im Krieg gewesen. Eine Granate hatte den Obergefreiten zerfetzt, als er auf dem Feld einem Verwundeten beistand. "Es war nichts mehr von ihm da, kein Stück", beschreibt Tochter Doris Deutsch in brutaler Klarheit den Tod des Vaters. Eindringlicher kann man Abscheu vor Krieg nicht ausdrücken.

Doris Deutsch, in zweiter Ehe mit dem vor zwei Jahren verstorbenen Auschwitz-Überlebenden Alex Deutsch verheiratet, hat an einem Wochentagmorgen in ihre Küche eingeladen. Bei Kaffee, Saft und Plätzchen erzählt sie 14- bis 16-jährigen Schülern der Friedrichsthaler Edith-Stein-Schule aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren. Die 75-Jährige ist ein offener, bodenständiger Mensch, der die Dinge lebensklug und "richt heraus" beim Namen nennt, ohne um Formulierungen ringen zu müssen. Nicht ihr Tonfall ist klagend und anklagend, sondern die Inhalte sind es. Auch Schulleiter Werner Hillen, der Journalist und Publizist Dieter Gräbner sowie Friedrich-Wilhelm Keller, Jugendreferent beim Volksbund Kriegsgräberfürsorge im Saarland, sind der Einladung gefolgt. Sie sind die Initiatoren des Schulprojektes "Spurensuche", das ein klares Ziel hat: Die Schrecken von Krieg und Terror nie in Vergessenheit geraten lassen, und zwar durch die Beschäftigung mit Einzelschicksalen. Doris Deutsch weist die jungen Leute darauf hin, dass die Todesanzeige der Mutter bereits die Distanz der Familie zum Krieg ausdrückte.

Viele Witwen hätten "in stolzer Trauer" um ihre Männer geweint, um damit die Heldenhaftigkeit des Sterbens für Land und Führer zu dokumentieren. "Tiefe Trauer" sei etwas anderes. Der Vater, so kann sie anhand von Briefen zeigen, war alles andere als ein begeisterter Soldat. 1941 schrieb er frech an die örtliche NSDAP, nachdem deren Statthalter von seiner Frau eine unverschämt hohe "freiwillige" Spende gefordert hatten. Das war sehr mutig. Das Streben von Kurz war stets, heil aus der von ihm so benannten "Sch...." herauszukommen und seiner Frau endlich Paris zu zeigen. Das einzige Kind, Doris, war sein "Goldstück". Wenn er Heimaturlaub hatte, war Doris als Erste am Bahnhof, um ihn zu begrüßen. Als sie einmal ein Geschwisterchen wünschte, vertröstete der Vater per Feldpost, dass die Hebamme gerade "nur hässliche Kinder" im Angebot habe, aber wenn er wieder daheim sei, gehe man gemeinsam zu ihr, um gemeinsam ein hübsches zu bestellen. Noch heute sieht Doris Deutsch ihn deutlich vor sich.

Die schriftliche Mitteilung vom Tod kam mit mehrmonatiger Verspätung an, im März 1945. Doris war sieben Jahre alt und in Obhut der Großeltern väterlicherseits in Esslingen. Oma und Opa brachten es nicht fertig, den Brief vorzulesen. Das Kind selbst las laut vor und hatte auch sonst keinerlei Hilfe bei der Verarbeitung des Verlustes. "Man kannte damals keine psychologische Betreuung", so die Zeitzeugin.

Als sie zum ersten Mal das Grab des Vaters besuchte, war sie schon über 50. Denn erst 1986, zehn Jahre nach einer Umbettung, erfuhr die Familie vom Grab auf einem Soldatenfriedhof in den Niederlanden.

Man verzichtete auf eine Überführung nach Deutschland und beließ den Vater bewusst "unter seinen Kameraden". Kriegsgräber sind für die Ewigkeit. Die Mutter hatte nie mehr geheiratet und starb 2003 im Alter von 87 Jahren. "Man kannte damals keine psycho-

logische Betreuung."

Doris Deutsch

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