Eine fast vergessene Geschichte

Limbach · Gerd Imbsweiler ist langjähriger Mitarbeiter unserer Zeitung. Er war lange Jahre Ortsvorsteher in Limbach und Lehrer für Latein und Geschichte am Saarpfalz-Gymnasium in Homburg. Er gilt als profunder Kenner der lokalen und regionalen Geschichte. Hier erzählt er die nahezu vergessene Geschichte des Limbachers Hugo Klein in der NS-Zeit.

 Hugo Klein im Kreis seiner Familie. Er ist der Zweite von rechts. Er war damals zwischen drei und vier Jahre alt. Fotos: Gerd Imbsweiler

Hugo Klein im Kreis seiner Familie. Er ist der Zweite von rechts. Er war damals zwischen drei und vier Jahre alt. Fotos: Gerd Imbsweiler

 Hugo Klein beim DRK.

Hugo Klein beim DRK.

 Die Diagnose aus Homburg 1939. Foto: Bundesarchiv Berlin

Die Diagnose aus Homburg 1939. Foto: Bundesarchiv Berlin

Foto: Bundesarchiv Berlin
 Die Todesanzeige von Hugo Klein.

Die Todesanzeige von Hugo Klein.

Der Limbacher Hugo Klein gilt als Beispiel gegen das Vergessen: "Gegen das Vergessen-Symposium über die Medizin des Nationalsozialismus" lautete eine Veranstaltung der Medizinischen Fakultät am 13. Februar. Es ging um Zwangssterilisation und Euthanasie. Zwangssterilisation, seit 1933 beruhend auf dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, und die Euthanasie, seit Hitlers Euthanasiebefehl vom Oktober 1939 waren staatlich "legitimiert". So empört wir heute über diese barbarische Praxis sind: Das war damals die allgemeine Sicht der Dinge - sowohl in der breiten Masse als auch in der Wissenschaft. Man war der Überzeugung, dass das Durchfüttern der - vornehm ausgedrückt - "an Leib und Seele Kranken", der - brutal formuliert - "Krüppel, der Parasiten am deutschen Volkskörper" einen Staat wirtschaftlich überfordere; vor allem aber aus Gründen des Überlebenskampfes der Rassen sei es unverantwortlich, wenn diese "Lebensunwerten" ihre Anlagen weitergeben dürfen. Die wissenschaftliche Rechtfertigung lieferte die 1920 erschienene Schrift "Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens" des Hochschulrechtslehrers Karl Binding und des Psychiaters Alfred E. Hoche, die mehrere Auflagen erlebte. Auch Hitler vertrat in "Mein Kampf" diese Geisteshaltung, nämlich "defekten Menschen die Zeugung unmöglich zu machen"; ihre Durchführung sei ein Akt der Humanität. Wie das? Darüber schwieg sich Hitler aus.

Als die Nazis an die Macht kamen, setzten sie das "Wie" in blutige Realität um. Zwischen 1939 und 1941 wurden durch Ärzte und Pflegepersonal in den zu Tötungsanstalten umgebauten Heil- und Pflegeanstalten Hadamar (bei Frankfurt), Grafeneck bei Münsingen (südlich von Stuttgart), Hartheim (bei Linz), Sonnenstein (in Pirna), Bernburg (bei Magdeburg) und Brandenburg (bei Berlin) 70 273 Menschen "euthanasiert", sie erhielten den "Gnadentot" durch Vergasung.

Im Landeskrankenhaus Homburg wurde "fleißig" sterilisiert, es gehörte aber nicht zu diesen Tötungsanstalten, im Tötungsprogramm, genannt Euthanasie-Aktion oder Aktion T4 (T4 steht für die Tiergartenstraße 4 , dem Hauptsitz der Aktion) war es "lediglich" ein wichtiges Rädchen, es fungierte, salopp ausgedrückt, als "Zulieferbetrieb". Wenn man sich die Zahl 70 273 vor Augen hält, und das in gut einem Jahr, wird einem bewusst, dass hinter der Aktion T 4 ein gewaltiger Apparat stehen musste, der einen Berg organisatorischer Aufgaben zu bewältigen hatte. So mussten - grob aufgezählt - von einem Gremium die Betroffenen erfasst und diagnostiziert werden, für die Abholung mussten Busse bereitstehen, die die Betroffenen nach Aufenthalten in Zwischenstationen aus Geheimhaltungsgründen in die Vergasungsanstalten transportierten. Nach der Einäscherung und Benachrichtigung der Angehörigen erfolgte die Abrechnung mit den Kostenträgern. Alles das, und noch vieles mehr, erforderte ein Heer von Helfershelfern, vom Ungelernten bis zum Professor, immer unter der Vorgabe, dass die Öffentlichkeit von der Mordorgie und ihrem Ablauf kaum etwas mitbekam.

Am Beispiel des Limbachers Hugo Klein sei dies anschaulich gemacht. Es fing damit an, dass er, wie die Limbacher geheimnisvoll andeuteten, "abgeholt" wurde, worunter ich mir als Kind nichts vorstellen konnte, verstand aber, dass es etwas bedrohlich-unheimliches war. Wie kam es dazu?

Der 1913 geborene Hugo hatte als Ungelernter keine feste Anstellung, dennoch war er kein "unnötiger Esser"; auch die Gefahr der "Paarung" (Mein Kampf S. 313) bestand bei diesem scheuen Menschen nicht:

Er arbeitete immer, meist bei seinem Vater, der als Hausschlächter und Holzfuhrmann selbstständig war und dem er zur Hand ging; zwischendurch verdingte er sich als Tagelöhner bei Bauern, half dem benachbarten Kohlehändler beim Waggonausladen der Briketts oder Kohle, in der Gemeinde betätigte er sich als ABMler bei der Begradigung der Mutterbach, half im Sägewerk Schenck beim Stapeln von Eisenbahnschwellen - alles Arbeiten, die schwer waren und nur zu bewältigen waren, wenn man willig war.

Fleißig war er, aber scheu. Sprach ihn jemand an, "überschlug" er sich und stotterte, dennoch war er nicht vollkommen einzelgängerisch, zum Beispiel war er Mitglied des Roten Kreuzes. Obwohl harmlos, wurde er der Volksgemeinschaft zum Ärgernis: Als Hitler nämlich 1938 auf der Kaiserstraße durch Limbach fuhr, waren die Häuser geschmückt, auch Hugos Elternhaus. In der Wirtschaft drohte er, den Schmuck abzureißen. Das war zu viel für die Übereifrigen! Er musste von Sinnen sein, Strafe musste sein, und zwar exemplarische.

Ein politischer Leiter, den ich noch gut kannte, meldete den Vorfall weiter. Das Verhängnis nahm seinen Lauf:

Am 2. Juni 1939 wurde er ins "Landeskrankenhaus Homburg-Saar (Abteilung für Nervenkranke)", abgeholt von einem "Sanitärfahrzeug", so eine Augenzeugin mir gegenüber, überwiesen, wo er in der Landwirtschaft arbeitete. Die Diagnose des "zuweisenden Arztes Dr. L.", eines Limbachers übrigens, lautete "Psychose".

Entlassen wurde Hugo am 10. September 1939 - jedoch nicht nach Hause, sondern in die Landesheilanstalt Uchtspringe in der Altmark. Der Grund für diese Verlegung (mit noch 146 Leidensgenossen): "Die politische Lage". Damit ist die Beschlagnahmung der Klinikgebäude durch das OKW (Oberkommando der Wehrmacht ) für militärische Zwecke gemeint.

In Uchtspringe beschäftigte er sich, wie eine Notiz mit Datum vom "26. 8. 40" besagt, "seit einiger Zeit in der Parkkolonne." Auf dem gleichen Zettel lesen wir: "4. Oktober 1940 unverändert Pat(ient) mit Sammeltransport verlegt." Da an diesem Tag, wie wir aus der Literatur wissen, 56 Männer (und 13 Kinder) "von Uchtspringe nach Brandenburg deportiert wurden", beim nächsten Transport am 15. Oktober nur Frauen dabei waren, ist hinreichend wahrscheinlich, dass mit diesem Sammeltransport am 4. Oktober 1940 auch Hugo Klein war.

Dort "verstarb" er laut Schreiben der Landespflegeanstalt Brandenburg a. H. an Herrn Wilhelm Klein vom 17.10.1940 "am 16. Oktober 1940 infolge perf.(oriertem) Wurmfortsatzentzündung, die eine Bauchfellentzündung verursachte". Mit "Heil Hitler" hat ein Dr. Rieper diesen so genannten Trostbrief unterschrieben. Das Schreiben wimmelt von Lügen: "Verstarb" ist ein Euphemismus (wie "Endlösung" für Holocaust oder "Übersiedlung" für Transport in die Vernichtungslager). Hugo wurde durch Kohlenmonoxid vergast, und zwar am 4.10. direkt nach der Ankunft im 40 km entfernten Brandenburg. So war die Praxis. Die Terminierung des Todesdatums vom 4.10. auf den 16.10. war üblich, um den Kostenträger , die A.O.K.K. Homburg, länger abzukassieren. Das Geld -Millionenbeträge kamen zusammen - floss in die NSDAP-Kasse.

Auch die Unterschrift "Dr. Rieper" ist eine Fälschung, derselbe hieß in Wirklichkeit Dr. Bunke. Dieser Dr. Bunke ist vom Schwurgericht Frankfurt durch Urteil vom 23.5.1967 der Beihilfe zur Ermordung von mindestens 4950 Geisteskranken für schuldig befunden worden.

Hugo Klein war ein kleines Licht, keine Bedrohung der politischen Führung also, er war arbeitsam, kein "Parasit am deutschen Volkskörper" also, als Rotkreuzler ein engagiertes Mitglied in der Volksgemeinschaft, als menschenscheuer junger Mann gab er keinen Anlass, in ihm eine Gefahr für die Reinheit der eigenen Rasse zu sehen; dennoch wurde er zum "unwerten Leben" erklärt und schließlich ausgemerzt.

Dieses Phänomen, dass die Nazis ihre eigenen Maßstäbe mit Füßen traten, ist nur so zu erklären: Es war der Zeitgeist, der für "Defekte ", Menschen mit Behinderung also, vielfach keine Gnade kannte. Diese Einstellung hat sich heute geändert, denken wir an eine Einrichtung wie das Christliche Jugenddorf. War Hugo Klein ein Defekter? Er war es deswegen, weil er sich in dem Moment, als die Menschen für Hitler die Häuser schmückten, sich verweigerte, sich damit eines Sakrilegs schuldig machte. Was danach folgte, macht uns heute fassungslos. Ein Riesenapparat sorgte für die "Entsorgung" dieser Defekten, wobei die volkswirtschaftlichen Kosten ins Uferlose gingen - eine Überlegung allerdings, die in einer Diktatur noch nie eine Rolle spielte.

Die Spitze der Organisation T4 bildete der Chef der Kanzlei des Führers, der, wie gesagt, seinen Sitz in Berlin in der Tiergartenstraße 4 hatte. Hier liefen alle Fäden zusammen: Die Euthanasierung Hugo Kleins ist ein Musterbeispiel für die Funktionsweise:

Nach der Denunziation durch einen politischer Leiter an höherer Stelle sorgte die Partei für

die Einweisung in die Nervenabteilung des LKH. Mit der Einweisungsdiagnose nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Von der Nervenabteilung des LKH wird er in die Heil-und Pflegeanstalt Uchtspringe verlegt.

Danach kommt er in die eigentliche Tötungsanstalt Brandenburg. Die Zwischenanstalten, wie Uchtspringe, hatten zwei Funktionen: die Tötungskapazitäten der sechs Mordzentren zu steuern und den Verbleib der Opfer zu verschleiern, falls Verwandte nachfragen sollten.

Kopf aller Maßnahmen war der T4-Apparat, der sich wiederum vier Tarnorganisationen bediente: Die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil-und Pflegeanstalten (RAG) verschickte an alle Heil- und Pflegeanstalten, in denen sich "Defekte " befanden, Fragebögen, die diese ausgefüllt an die RAG zurücksenden mussten. Die RAG leitete diese an so genannte Gutachter weiter: je drei Gutachter und ein Obergutachter entschieden, nach Aktenlage also, über Leben und Tod der Patienten. Gutachter war auch ein Homburger: der Leiter der Nervenabteilung des LKH Homburg, Dr. Hanns Heinrich Heene, SS-Mitglied seit 1935.

Fiel die Entscheidung Tod, lieferte sie die Gemeinnützige Krankentransport GmbH (Gekrat) in spezielle Euthanasie-Tötungszentren ein, wo sie, so auch Hugo Klein, in Gaskammern, getarnt als Duschräume, umgebracht wurden. Dabei wurde giftiges Kohlenmonoxid-Gas verwendet, das aus Gasflaschen in die Tötungsräume geleitet wurde.

Diese Tötungszentren waren von der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege angemietet worden und zweckentsprechend umgebaut worden. Auch das Personal war von der Stiftung eigens ausgewählt worden.

Die T4-Aktion kostete viel Geld. Die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten, die die Pflegesätze mit den Kostenträgern aushandelte, war verantwortlich für die Selbstfinanzierung.

Im August 1941 stoppte Hitler das T4-Programm, die veranschlagte Anzahl zu tötender Behinderter war erreicht. Doch damit war das Morden nicht zu Ende. Das Personal der Tötungsanstalten wurde nun in den Vernichtungslagern im Osten eingesetzt, jetzt mit dem Holocaust als "Endlösung".

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