Hörbuch-Kritik Furcht einflößende Satire über eine „Flüchtlingswelle 2.0“

Homburg · Timur Vermes („Er ist wieder da“) lässt in seinem „Die Hungrigen und die Satten“ hunderttausende Flüchtlinge im Rahmen einer TV-Show aus Afrika Richtung Deutschland marschieren. Dort wächst die Panik. Ein aufrüttelndes Stück guter Unterhaltung.

 Die Hungrigen und die Satten

Die Hungrigen und die Satten

Foto: Lübbe Audio

Mit „Er ist wieder da“ landete Journalist Timur Vernes 2012 einen Überraschungserfolg. Die Handlung: Hitler, der plötzlich im Berlin der Neuzeit erwacht und dank einer quotenhungrigen TV-Industrie zum Medienstar avanciert – bejubelt von einer aufkommenden Rechten. Eine Medien- und Gesellschaftssatire erster Güte, die in der Hörbuchfassung vor allem durch Vorleser Christoph Maria Herbst an Charme gewann. Zieht er doch Hitlers Aussprache unnachahmlich durch den Kakao.

Vermes‘ neuer Buch „Die Hungrigen und die Satten“ kommt ohne Hitler aus. Doch ansonsten drängen sich viele Parallelen auf. Vom ähnlich gestalteten Cover (weißer Hintergrund, schwarze Schrift), über den erneut starken Vorleser Herbst, der den Figuren eigenen Charakter und Stimmungen einhaucht. Dann ist es wieder eine Mediensatire, wieder ist sie sehr gelungen, und es geht wieder um Rechte. Doch vor allem stehen anstatt Hitler Flüchtlinge im Blickpunkt.

Die Handlung: Das dumm-naive und eingebildete TV-Sternchen Nadeche Hackenbusch wird in die Wüste geschickt. Die Sendung „Engel im Elend“, bei der es armen Menschen half, war so erfolgreich, dass ihr Sender sie für ein aufsehenerregendes Special in das größte mehrerer nordafrikanischer Flüchtlingscamps auf „echtes“ Elend treffen lassen will – vor den Linsen der Fernsehkameras und in der Hoffnung auf neue Rekordquoten. Die kommen auch. Doch Hackenbusch entwickelt missionarischen Eifer und Flüchtling Lionel, der es schnell in die Sendung schafft, erhofft sich von einer Liaison mit ihr die Ausreise. Als der Sender die Erfolgsshow plangemäß einstellen will, rebelliert die Moderatorin – und macht sich mit den hunderttausenden Flüchtlingen auf einen Fußmarsch Richtung Deutschland. Das setzt die Politik unter Druck und heizt die Stimmung im Land an, je näher der Treck kommt.

Vermes kennt die Mechanismen der Medien. In der Spezialrubrik eines ironisch-provokanten Fragebogens konfrontiert er im Fachmagazin „Der Journalist“ seit Jahren Medienmacher mit Sinn und Unsinn ihrer Arbeit.  Im Buch ist Sendungsmacher Christoph Sensenbrink, der schon bei „Er ist wieder da“ und Hitlers Aufstieg eine Rolle spielte (und in der Verfilmung ebenfalls von Christoph Maria Herbst gemimt wurde) ein Sinnbild für die quotenhungrigen Sensationsunterhaltung, die vor allem dem eigenen Aufstieg dient.

Vermes‘ Motivation, sich in seinem zweiten Roman der Flüchtlingskrise anzunehmen, sei die „widersinnige Form der Debatte“ gewesen, „dieses ‚Alle rein‘ versus ‚Keiner rein‘“. Darüber hinaus „die Einsicht, dass wir uns diese fruchtlose Debatte nicht leisten können: Denn während alle anderen Länder das Problem an uns weiterschieben können, können wir das nicht: Wir sind nämlich die Reichen, zu denen alle wollen“.

Sein „Wander“-Szenario fällt derweil erstaunlich aus: ein organisierter Treck mit Toilettenwagen, protegiert von den jeweiligen Provinzfürsten, Kosten deckend gelenkt mittels bargeldloser Handy-Transaktionen der Flüchtlinge. Doch: Sorgte die Hitler-Fiktion noch für eine ordentliche Portion Humor, bleibt einem dieses Mal das Lachen im Halse stecken. Vor allem gegen Ende, da Vermes zum großen Schlag ausholt und ein Spektakel inszeniert, das überrascht und nachdenklich stimmt, dabei bisweilen etwas übertrieben daherkommt.

Insgesamt beschreibt er ein Szenario, das nach dem Flüchtlingszuzug 2015 theoretisch jederzeit passieren könnte. Welche Botschaften würde er Politik und Gesellschaft im Angesicht dessen zurufen wollen? Vermes: „Wenn ich die Nachrichten richtig lese, schafft die Politik gerade exakt jene Voraussetzungen für alles, was der Roman beschreibt. Ich kann nicht lauter rufen als mit einem Buch, das auf Platz eins der Bestsellerliste stand.“

 Würde das Land angesichts eines gewaltigen Flüchtlingszuges zu Panikmaßnahmen wie dem Bau eines elektrifizierten Riesenzauns greifen? Würden die europäischen Nachbarländer die Flüchtlinge durchwinken, aus Angst, sie müssten sie sonst selbst aufnehmen? Und würde das Fernsehen, menschenverachtend gierig nach Quoten, eine Katastrophe herbeisehnen, wenigstens billigend in Kauf nehmen? Die Antworten lauten bei Vermes allesamt „Ja“.

„Ich wollte natürlich das Szenario haben: Was ist denn, wenn die vor unserem Zaun stehen? Und ‚die‘ sind nicht zwölf Hanseln, sondern 400 000? Die Frage ist also eher: Kriegt man die 400 000 an den Zaun? Und zwar ohne zu schummeln? Ob ich es hinbekommen habe, muss der Leser entscheiden. Aber wenn er keinen größeren Fehler findet – wird er über manches andere nachdenken müssen.“

Was auch Vermes‘ zweites Hörbuch so hörenswert macht, ist der Vorleser:  Christoph Maria Herbst gewann für seine Leistung dieses Jahr den deutschen Hörbuchpreis in der Kategorie „Beste Unterhaltung“.

„Mit absolut bestechender Virtuosität und Vitalität“ erwecke er die Figuren dieser Gesellschaftssatire zum Leben, fand die Jury. Sein „schier unendliches Repertoire“ verschiedener Dialekte und Stimmfärbungen von Schwäbisch über Bayrisch verleihe der Lesung einen „Sog“, dem der Hörer verfalle: „Das ist ‚Beste Unterhaltung‘ par excellence“. Man mag sich da gerne anschließen.

 Vorleser Christoph Maria Herbst („Stromberg“) wurde für seine Interpretation mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgestattet.

Vorleser Christoph Maria Herbst („Stromberg“) wurde für seine Interpretation mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgestattet.

Foto: dpa/Henning Kaiser

Timur Vermes: Die Hungrigen und die Satten, Lübbe Audio, bearbeitete Fassung, 555 Minuten, gelesen von Christoph Maria Herbst, ISBN 978.3.7857-5800-7

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