Kriegsende vor 75 Jahren Eine Rede, die die Welt verändern sollte

Homburg · Zum Kriegsende 8. Mai 1945: Erinnerung an die berühmten Worte des früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker im Jahr 1985.

 Landrat Theophil Galle zu Gast in der Geschwister-Scholl-Schule in Blieskastel.

Landrat Theophil Galle zu Gast in der Geschwister-Scholl-Schule in Blieskastel.

Foto: Sandra Brettar/Saarpfalz-Kreis

  Am Mittwoch, dem 15. April 2020, wäre der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 100 Jahre alt geworden – ein Mensch, der sicher zu Recht als Idealtypus eines Staatsoberhauptes angesehen wird. Der Saarpfalz-Kreis steht übrigens in enger Verbindung zur Familie Weizsäcker: Die Vorfahren des einstigen Bundespräsidenten bewirtschafteten im 17. Jahrhundert die Woogsacker Mühle in Niederbexbach. Jeder, der die Brücke zwischen Niederbexbach und Altstadt quert, fährt an dem alten Gehöft vorbei.

Die Rede, die von Weizsäcker am 8. Mai 1985 anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes vor dem deutschen Bundestag gehalten hat, ist eine der Reden, die die Welt veränderten – oder zumindest verändern sollten. Mit der Aussage von der Befreiung vom Nationalsozialismus prägte von Weizsäcker eine Kernaussage der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und fand damit große Anerkennung im In- und Ausland, vor allem auch in Israel.

Von Weizsäcker wollte dieses Ziel erreichen, er wünschte es sich aus eigenen persönlichen Erfahrungen und aus tiefstem Herzen. Bundestagspräsident a.D. Norbert Lammert würdigte die Rede als ein „starkes Signal mit nachhaltiger Wirkung nach innen wie nach außen“.

Heute stellt sich die Frage, wie nachhaltig diese Rede wirklich war. Was ist davon angekommen, was ist haften geblieben? Richard von Weizsäcker hat mit dieser Rede Maßstäbe gesetzt. Die Rede ist ein gewaltiger Schritt der deutschen Vergangenheitsbewältigung, auch der Versöhnung. Sie ist Programm für alle Nachfolge-Generationen, die mit dem Dritten Reich und seiner Barbarei, mit den schrecklichen Auswirkungen und Folgen des Zweiten Weltkrieges, nichts mehr zu tun haben. Und sie ist Vermächtnis eines großen Deutschen an uns alle.

Von Weizsäcker hat weitaus mehr gesagt als das, womit ihn Bundespräsident Steinmeier würdigt. Danach hat er mit seiner Gabe zur Versöhnung und zur Wahrhaftigkeit gegen Jedermann (…) unser Land zum Besseren verändert, nach innen wie nach außen. Aber hat er das tatsächlich getan, ging von seiner Rede tatsächlich eine solche Wirkung aus?

Ohne von Weizsäcker, einem großartigen Staatsmann und seiner fulminanten Rede auch nur ein Jota an Bedeutung nehmen zu wollen, bleibt bei kritischer Betrachtung nur das ernüchternde Fazit, dass diese Würdigung eher Wunschdenken ist als Wirklichkeit. Oder ist es nicht vielmehr so, dass wir noch in erheblichem Umfang nacharbeiten müssen, um uns Weizsäckers Vision anzunähern? Eigentlich müssten wir sie vielleicht permanent, Tag für Tag, leben.

Keine Frage: Wenn eine Rede Beachtung verdient und heute mehr denn je aufmerksam gelesen und verstanden werden soll, dann diese. Von Weizsäcker hat so viel Wahres und heute noch Wertvolles und Wichtiges angesprochen, dass seine Rede unverzichtbar in Lehrpläne, in den Schulunterricht, in die akademische wie in die öffentliche Diskussion gehört. Viele vergessen heute die Verantwortung, die mit zunehmendem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen vor dem 8. Mai 1945 mehr denn je an Bedeutung gewinnt. Weizsäcker hat am Ende seiner Ausführungen gesagt: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“ Und  weiter: „Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden.“ Auch dieser Satz hat heute, 35 Jahre nach seiner Rede, nichts an Richtigkeit und Relevanz verloren. Ich kann jeden nur bitten, diese Rede aufmerksam zu lesen. Die Gedenkrede Richard von Weizsäckers ist ein Vermächtnis für uns alle.

Richard von Weizsäcker ist  es gewesen, der eine völlig neue Perspektive auf den 8. Mai 1945 eröffnet hat. Bis dahin ist das Datum eher nicht als „Tag der Befreiung“ empfunden worden, sondern – vor allem von Zeitzeugen – als Tag der Niederlage, der Schmach, des Untergangs, der Demütigung. Sich der Wahrheit zu stellen, ist zu der Zeit den meisten Menschen schwer gefallen. Die aus der Leugnung und Verdrängung in der Folgezeit entstehenden gesellschaftlichen Konflikte haben die Bundesrepublik geprägt. Das ist die eine Seite von Weizsäckers Rede: Er hat Deutschland von diesem Trauma und der inneren Zerrissenheit befreit. Aber er hat die Menschen nicht von ihrer Verantwortung befreit, sondern ihnen fundamentale Aufträge mitgegeben. Von Weizsäcker hat die Deutschen explizit nicht aus ihrer Verantwortung für das entlassen, was geschehen war. Vielmehr erwächst aus dem Wissen über die Geschehnisse der Vergangenheit die zwingende Verpflichtung, Verantwortung zu übernehmen.

35 Jahre nach Weizsäckers Rede sind heute eine Reihe von Themen und Entwicklungen bedeutsam, die besonderer Verantwortung bedürfen. Nur zwei Aspekte seien genannt:  Dass in den letzten Jahren rechte Gruppierungen, Ideologen und Ideologien zunehmend Zulauf bekamen und bekommen, dass unkaschierter Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass so zunehmen konnten, dokumentiert, dass die von Weizsäcker geforderte Verantwortung in vielen Köpfen nicht angekommen scheint und keine Lehren aus der Vergangenheit gezogen wurden. Dass die Freiheit der Presse nicht mehr als Selbstverständlichkeit angesehen wird, ist nicht zuletzt der Vielfalt individuell nutzbarer neuer, vor allem technischer Medien geschuldet. Auch bei deren Gebrauch ist besondere Verantwortung gefordert. Die gezielte Verbreitung von Lügen („Fake News“) steht beispielhaft dafür, dass hier verantwortungslose Akteure systematisch am Werk sind.

Philipp Jakob Siebenpfeiffer forderte – in der Sprache der damaligen Zeit – stets Wachsamkeit zu üben und das „Gewissen“ stets zu überprüfen und zu schärfen. Willi Graf, Mitglied der Widerstandsorganisation „Weiße Rose“, hat aus anderem zeitlichen Blickwinkel und zeitgenössischem Kontext ähnlich postuliert: „Jeder Einzelne trägt die ganze Verantwortung. “

Die Gedanken von Weizsäckers gehen in die gleiche Richtung und entlassen keinen aus der Verantwortung. Wenn es heute Menschen gibt, die aus ihrer Sicht dem 8. Mai 1945 die Bedeutung als Tag der Befreiung absprechen wollen oder ihn relativieren wollen mit der Aussage, es sei auch ein Tag der absoluten Niederlage gewesen, so sei denen ein Aspekt in Erinnerung gebracht: Die angebliche Niederlage war schlicht Folge dessen, was Nazi-Deutschland am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen völlig grundlos losgetreten hat. Die Dimension dessen ist in der Tat schwer zu verstehen, ganz sicher aber nicht wegzudiskutieren. Insgesamt ist die Rede von 60 bis 80 Millionen Toten weltweit. Allein in Polen sind diesem Wahnsinn etwa 17,2 Prozent der Bevölkerung, sechs Millionen Menschen, zum Opfer gefallen.

Diese Zahlen sind so unfassbar. Es waren aber alles Einzelschicksale. Jeder, der Zweifel hat an der Verantwortung von uns allen, sollte das Museum der Familie Ulma in Markowa im Powiat Łańcut, neben dem Powiat Przemysl der zukünftige, zweite Partnerkreis des Saarpfalz-Kreises, besuchen. Am 8. Mai hätte im Rahmen einer gesonderten Sitzung des Kreistages, diese Partnerschaft offiziell bestätigt werden sollen. Sitzung und Unterzeichnung der Partnerschaftsurkunde mussten coronabedingt leider abgesagt werden.

Diese Verantwortung, an die uns Richard von Weizsäcker mahnt, ist die Basis der Partnerschaftsarbeit, der sich der Saarpfalz-Kreis, der sich die Deutsch-Polnische Gesellschaft Saar, der sich die Siebenpfeiffer-Stiftung verschrieben haben. Das möchten wir auch im Rahmen der Reihe „Landrat macht Schule“ vermitteln. Damit kommen wir der Verantwortung nach, die jeder von uns hat, so wie es der ermordete Widerstandskämpfer Willi Graf, ein Zeitgenosse Richard von Weizsäckers, an seine Schwester geschrieben hatte. Noch einmal: Jeder Einzelne trägt die ganze Verantwortung. Diese Verantwortung und das historische Wissen um das, was wir leider nicht mehr ungeschehen machen können, ist die Grundlage, gemeinsam für unsere Partnerschaften, auch und gerade mit Polen, zu werben und dafür zu arbeiten. Für Frieden, für Europa und für unsere Kinder und Kindeskinder. So wollte es Richard von Weizsäcker.

Theophil Gallo ist Landrat des Saarpfalz-Kreises und gleichzeitig  Vorsitzender der Siebenpfeiffer-Stiftung und der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Saar.

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