Es war ein kaltblütiger Mord

Limbach. Ich hatte unlängst in einem Aufsatz über Limbacher Wehrmachtssoldaten den 20-jährigen Werner Klein erwähnt, der seit 1943 in Norwegen vermisst ist. Die Nichte, Ursel Rojan, geb. Klein, informierte mich, dass sie noch einen Brief ihres Onkels besitze

 Neben Hugo, dem Drittgeborenen, hatte das Ehepaar Klein, Wilhelm und Margareta, geb. Wolf, noch weitere Kinder: Hugo ist das Kind, das rechts neben seiner Mutter steht. Fotos: Archiv-Imbsweiler

Neben Hugo, dem Drittgeborenen, hatte das Ehepaar Klein, Wilhelm und Margareta, geb. Wolf, noch weitere Kinder: Hugo ist das Kind, das rechts neben seiner Mutter steht. Fotos: Archiv-Imbsweiler

Limbach. Ich hatte unlängst in einem Aufsatz über Limbacher Wehrmachtssoldaten den 20-jährigen Werner Klein erwähnt, der seit 1943 in Norwegen vermisst ist. Die Nichte, Ursel Rojan, geb. Klein, informierte mich, dass sie noch einen Brief ihres Onkels besitze.

Nach der Lektüre unterhielten wir uns, und sie zeigte mir eine andere Benachrichtigung an ihre Großeltern, darin die Mitteilung, dass deren Sohn Hugo, ein anderer Onkel also, in der Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a. d. Havel an "perf. Wurmfortsatzentzündung, die eine Bauchfellentzündung verursacht hat, verstorben" sei. Weiter heißt es: "Auf polizeiliche Anordnung mussten wir die Einäscherung sofort veranlassen." Unterschrift: "Heil Hitler, Dr. Rieper" Auf Wunsch der Familie ist die Urne nach Hause versandt worden.

Eine Nachbarin, schräg gegenüber, erzählte mir, die Mutter sei darüber nur schwer hinweggekommen. Nachdem aber die andere, ältere Nichte, Hannelore Bubel, geb. Klein, klipp und klar behauptete: "Von wegen gestorben! Mein Onkel ist vergast oder euthanasiert worden", war meine Neugier erwacht. Über zwei Belege verfügte ich: Die erwähnte Todesbenachrichtigung und eine Postkarte des Onkels, worin er mit fremder Hand, unterschrieben von ihm, die Eltern um Folgendes bat: "Seid so gut und schickt mir ein paar Mark Geld, damit ich mir etwas kaufen kann Tabak und Zigaretten usw. auch mal Obst." Poststempel: Uchtspringe 3.7.1940.

Uchtspringe? Uchtspringe, in der Nähe von Stendal (Sachsen-Anhalt) gelegen, beherbergte eine Heil- und Pflegeanstalt, die sich heute Fachklinikum für Psychiatrie nennt.

Doch zunächst zu Hugo Klein: Eine feste Arbeitsstelle hatte Hugo Klein, der am 12. 4. 1913 in Limbach geboren wurde, nur zeitweilig, was in den 30er Jahren, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, nichts Besonderes war; insbesondere galt es für die, die keinen Beruf erlernt hatten.

Dennoch war er immer beschäftigt, war "kein unnötiger Esser", um in den NS-Jargon zu verfallen: Entweder arbeitete er bei seinem Vater Wilhelm ("Hiesel"), der sich als Frührentner selbständig gemacht hatte, oder er "jobbte" nebenher: So half er als Tagelöhner während der Kartoffelernte des Nebenerwerbslandwirtes Adolf Müller aus. In der Mittagspause saß er im Kreise der Familie mit am Tisch.

Klein war schüchtern und scheu und wurde oft gehänselt. Nur einmal flippte er regelrecht aus: Als aus Anlass der Durchfahrt Hitlers die Limbacher Häuser, auch das seiner Eltern, geschmückt waren, habe er in der Wirtschaft - wahrscheinlich unter Alkoholeinfluss - über Hitler geschimpft und gedroht, er werde den Schmuck abreißen. Nach der Vermutung eines Zeitzeugen hat ein politischer Leiter diesen Vorfall prompt weitergemeldet.

Das Verhängnis nahm jetzt seinen Lauf. Es begann am 2. Juni 1939. An diesem Tag wurde Klein in die Abteilung für Nervenkranke des Landeskrankenhauses in Homburg überwiesen, Diagnose: Psychose. In der Zeit seines Homburger Aufenthaltes wurde Hugo in der Landwirtschaft beschäftigt. Nicht lange, denn bald darauf wurde er nach Uchtspringe verlegt, unter anderem auch deshalb, weil die Homburger Klinkgebäude für militärische Zwecke beschlagnahmt wurden.

Die meisten Patienten kamen in Anstalten im Raum Frankfurt, eine andere Gruppe, zu der auch Klein gehörte, nach Uchtspringe in die Altmark. Am 4. Oktober 1940 wurde er dann mit einem Sammeltransport von Uchtspringe nach Brandenburg gebracht, wo er angeblich am 16. 10. 1940 "verstarb".

In Wahrheit wurde er mit Kohlenmonoxid vergast. Sogar das Todesdatum ist gefälscht: Der Tag der Verlegung, am 4. 10. nämlich, ist angesichts der relativ kurzen Entfernung der beiden Städte auch der Tag der Ankunft. Aufenthalte waren gar nicht vorgesehen, die Vergasungen fanden sofort statt.

Die sechs Tötungsanstalten waren: Grafeneck bei Münsingen (südlich von Stuttgart), Brandenburg bei Berlin, Hartheim bei Linz, Sonnenstein in Pirna bei Dresden, Bernburg bei Magdeburg, Hadamar bei Frankfurt. An diesen Orten kamen in den Jahren 1940/41 70 273 Frauen, Männer und Kinder um, die krank, behindert oder alt waren.

Aufgrund von Medikamentenüberdosierung mussten zusätzlich 110 000 bis 130 000 Kranke und Behinderte ihr Leben lassen. Mehr also als die Hälfte der 340 000 Heimbewohner in Deutschland fielen damit dem NS-Euthanasie-Progammm zum Opfer.

In der Regel wurden Gruppen, die aus 60 bis 70 Personen bestanden, in die Gaskammer, die als Duschraum getarnt war, geführt. Drei bis vier Minuten ließ der Arzt das Kohlenmonoxid in die Kammer mit den dicht an dicht Stehenden strömen; die Sauerstoffaufnahme wurde blockiert: Hör- und Sehstörungen, Herzrasen und Schwindelgefühl stellten sich ein; bevor sie bewusstlos wurden, gerieten sie in Todesangst, sie schrien und schlugen an die Tür.

Nach einer Stunde saugte die Entlüftungsanlage das Kohlenmonoxid-Gemisch ab. Die Leichenbrenner trugen die toten Körper in den Leichenraum, um im benachbarten Krematorium, wo zwei stationäre Öfen standen, verbrannt zu werden. Ärzte und Standesbeamte unterschrieben mit Decknamen die Todesurkunden, die in der Regel falsche Sterbedaten, oftmals sogar falsche Sterbeorte aufwiesen. Die Angehörigen wurden in so genannten Trostbriefen benachrichtigt, standardisierten Schreiben, in denen das Bedauern über den Tod ausgedrückt wurde. Im Fall von Hugo Klein hieß es: "Sehr geehrter Herr Klein, wir müssen Ihnen die schmerzliche Mitteilung machen, dass Ihr Sohn, Herr Hugo Klein, der erst vor kurzem in unserer Anstalt eingewiesen wurde, hier am 16. Oktober 1940 infolge perf. Wurmfortsatzentzündung, die eine Bauchfellentzündung verursachte, verstorben ist. Auf polizeiliche Anordnung hin mussten wir die Einäscherung sofort veranlassen. Heil Hitler! Dr. Rieper." Der Brief ist eine einzige Lüge: Der unterschreibende Dr. Rieper ist der Deckname für Dr. Bunke, was allerdings erst Mitte der 60er Jahre bekannt geworden ist.

Dr. Bunke, ein Frauenarzt, ist übrigens vom Schwurgericht Frankfurt durch das Urteil vom 23. 5. 1967 der Beihilfe zur Ermordung von mindestens 4950 Geisteskranken für schuldig befunden worden. Trotzdem wurde er (und zwei andere Mitangeklagte) freigesprochen mit der Begründung: "Die Angeklagten haben jedoch nicht schuldhaft gehandelt. Es fehlte ihnen das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit."

So glimpflich wie Dr. Heinrich Bunke davonkam, erging es den meisten Euthanasieangeklagten: Sie alle nahmen für sich in Anspruch, nur im Auftrag gehandelt zu haben. Zum Schluss blieb nur noch Hitler als alleiniger Schuldiger übrig. Brandenburg war von Januar 1940 bis Oktober 1940 als eine der sechs Vergasungsanstalten von der Stiftung angemietet und umgebaut worden. Die Verlegung dorthin hatte nur den einen Zweck, nämlich den der Vergasung. Die Nichte hatte daher den Nagel auf den Kopf getroffen: "Von wegen gestorben! Mein Onkel ist vergast worden."

Die Eltern scheinen die wahre Todesursache dennoch geahnt zu haben, wenn sie in der Todesanzeige geschrieben haben: "Der Herr über Leben und Tod nahm am 16. Oktober unseren lieben Sohn, Bruder, Schwager, Onkel… nach längerer Krankheit, jedoch plötzlich und unerwartet, fern der Heimat zu sich in die Ewigkeit." Sich Gewissheit zu verschaffen, trauten sie sich nicht, es wäre ihnen auch übel bekommen, nicht lange danach erging an die Zeitungen sogar das Verbot, solche Todesanzeigen abzudrucken.

Das Schicksal Hugo Kleins ist ein Musterbeispiel, an dem man anschaulich machen kann, wie ein verbrecherisches System mit den Schwachen umging und wie die Volksgemeinschaft stumm zusah. Mitten im Dorf wohnend, wurde Hugo Klein mit 26 Jahren abgeholt und seiner Würde beraubt.

Ein Jahr später hat man ihm sein Lebensrecht genommen. Eine Rechtfertigung dafür gibt es nicht, er war nämlich arbeitsam, friedlich, harmlos und unschuldig.

Dennoch haben alle zugeschaut, viele haben die Maßnahme gebilligt, gewiss waren manche empört, laut zu protestieren hat keiner gewagt. Dennoch hat der Mord an Hugo Klein einen Sinn: An ihm kann mustergültig gezeigt werden, wie üble Machthaber sich herausnahmen, Gott zu spielen.

"Damals hat niemand gewagt zu protestieren."

 Hugo Klein als Mitglied des Roten Kreuzes.

Hugo Klein als Mitglied des Roten Kreuzes.

 Die vielsagende Todesanzeige. Repros: Imbsweiler

Die vielsagende Todesanzeige. Repros: Imbsweiler

 Neben Hugo, dem Drittgeborenen, hatte das Ehepaar Klein, Wilhelm und Margareta, geb. Wolf, noch weitere Kinder: Hugo ist das Kind, das rechts neben seiner Mutter steht. Fotos: Archiv-Imbsweiler

Neben Hugo, dem Drittgeborenen, hatte das Ehepaar Klein, Wilhelm und Margareta, geb. Wolf, noch weitere Kinder: Hugo ist das Kind, das rechts neben seiner Mutter steht. Fotos: Archiv-Imbsweiler

 Hugo Klein als Mitglied des Roten Kreuzes.

Hugo Klein als Mitglied des Roten Kreuzes.

 Die vielsagende Todesanzeige. Repros: Imbsweiler

Die vielsagende Todesanzeige. Repros: Imbsweiler

Gerd Imbsweiler

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