„Visiting the Past“ im Kino Achteinhalb Die Suche nach der Heimat in der Fremde

Essenheim · Wieso findet jemand eine Heimat ausgerechnet an dem Ort, aus dem einst die eigene jüdische Familie vertrieben wurde? Das zeichnet der eindringliche Film „Visiting the Past – von New York nach Essenheim“ nach. Die Regisseurin Barbara Trottnow stellt ihn in Saarbrücken vor.

 Joan Salomon (rechts) im Gespräch mit Elisabeth Schmitt: Sie ist die älteste Essenheimerin, Jahrgang 1920.

Joan Salomon (rechts) im Gespräch mit Elisabeth Schmitt: Sie ist die älteste Essenheimerin, Jahrgang 1920.

Foto: bt-medienproduktion

Das gute Geschirr kommt aus dem Schrank, das mit dem Goldrand. Liebevoll  poliert wird es, während auf dem Tisch schon die Torten warten. In ein wohliges Wohnzimmer führt uns der Dokumentarfilm „Visiting the Past – von New York nach Essenheim“ und zeichnet, unter anderem, eine traurige Familiengeschichte nach, ein Stück Zeitgeschichte im Kleinen.

Die Amerikanerin Joan Salomon, 1945 in New York geboren, besucht den beschaulichen Ort Essenheim, in der Nähe von Mainz, und findet hier, was sie in ihrem Lebensmittelpunkt New York nie erlebt hat: ein Gefühl der Heimat. Denn von hier kommt ihre jüdische Familie Mayer – hier endet aber auch deren glückliche Existenz. Nach der Macht­übernahme der Nationalsozialisten müssen die Mayers 1934 ihren Kolonialwarenladen in Essenheim schließen. Man kauft nicht mehr bei Juden, SA-Schläger schotten das Geschäft ab; Joan Salomons Großmutter und eine deren beiden Töchter bleiben in Deutschland, die andere Tochter Helina geht nach Holland, von dort aus in die USA und gründet eine Familie – sie ist Joan Salomons Mutter. Salomons Großmutter und deren Tochter Ruth  werden deportiert und in einem Vernichtungslager ermordet.

Diejenigen, die einst mit der Familie Mayer in Essenheim aufwuchsen, in deren Laden Süßigkeiten kauften, mit Salomons Tante zur Schule gingen, leben noch. Sie, zwischen 1920 und 1930 geboren, haben den Ort nie verlassen und nun mit Joan Salomon einen besonderen Gast. Die Freude ist gegenseitig, Salomon hört den Erinnerungen an eine Familie zu, die sie nie gekannt hat – und nahezu alles, auch die Erinnerungen an die Reichspogromnacht und an die Zerstörung der Essenheimer Synagoge, hört sie zum ersten Mal. Denn ihre Mutter Helina hat fast nie von damals erzählt und der Tochter in den USA verboten, Deutsch zu lernen; Salomon tat das dann doch, Jahrzehnte nach dem Tod der Mutter, nur um mit den Essenheimern reden zu können. Wenn Salomon im Film davon erzählt (nicht beim Kaffee, sondern nur der Kamera), wird „Visi­ting the Past“ zum Film über Traumata, die erlitten werden – und in die nächste Generation weitergegeben. Salomons Mutter hatte in den USA nicht das Geld, die Mutter und die Schwester von NS-Deutschland nach Amerika holen zu können;  bis zu ihrem Krebs­tod mit 57 Jahren habe Helina dieses Schuldgefühl nicht losgelassen, erzählt Salomon. „Ich hatte keine Mutter wie andere.“ Die Frustration, womöglich einen gewissen Selbsthass, habe Helina auch an der Tochter ausgelassen, auch mit körperlicher Gewalt.

 Die Stolpersteine der Familie Mayer in Essenheim. Sie liegen vor dem ehemaligen Haus der Familie, in dem früher auch ihr Laden war.

Die Stolpersteine der Familie Mayer in Essenheim. Sie liegen vor dem ehemaligen Haus der Familie, in dem früher auch ihr Laden war.

Foto: bt-medienproduktion

„Die Geschichte der Vertreibung und Ermordung ist nicht mit der unmittelbaren Opfergeneration zu Ende, es geht in der nächsten Generation weiter“, sagt die Filmemacherin Barbara Trottnow. „Man könnte ja glauben, dass man mit dem Geburtsjahr 1945 einfach Glück gehabt hat – aber die Traumatisierung geht weiter.“ Trottnow, die früher selbst in Essenheim gelebt hat, hörte in der alten Heimat, „dass eine Jüdin aus New York, eine Amerikanerin, wie sie sagten, regelmäßig nach Essenheim kommt – ihre Familie habe da früher gelebt, ihr gefalle es dort sehr gut und sie wolle da vielleicht leben.“ Das fand Trottnow sehr ungewöhnlich. „Warum fühlt sich jemand gerade an einem Ort so wohl und heimisch, der für ihre Familie doch so dunkel behaftet ist? Wie kann ein Opfer der Nazis das wollen?“

Das war der Auslöser ihres Films, für den sie bei den Beteiligten erst einmal Vertrauen aufbauen musste  - viel Kaffee trank sie mit den Essenheimerinnen vorab, die sie teilweise noch von früher kannten, „das hat  es etwas leichter gemacht“. Mit Salomon, die erstmals 2014 Essenheim besuchte, hat Trottnow vorab viel Kontakt per Skype gehabt, „aber ob das Ganze funktioniert, wussten wir erst bei den Dreharbeiten. Das Ganze hat gepasst, und Salomon war bereit, zu erzählen.“  Davon etwa, wie sehr sie sich eine Großmutter gewünscht hätte, zumal das Verhältnis zur Mutter kein gutes war. Und dass sie in Amerika keine Heimat gefunden hat, dass immer eine Sehnsucht blieb, die sie in Essenheim jetzt zumindest ein wenig stillen kann. Der Film lässt sie per Animation in eine alte Fotografie von Essenheim hineinwandern, sozusagen zu ihren Wurzeln. Der Lebenswunsch als Filmbild. Am Ende steht Salomon an einem Fenster und blickt über Essenheim, in dem sie, wie sie sagt, gerne den Rest ihres Lebens verbringen will – damit würde sich für ein Kreis schließen.

Das alles schildert der Film betont in aller Ruhe, ohne Mätzchen oder Effekthascherei. Umso spürbarer sind die Erschütterungen – bei Salomon, aber auch bei den Frauen, die die NS-Zeit durchlebt und die Misshandlung der Mayers als Kinder erlebt haben. „Es hat ihnen geholfen, doch nochmal über diese Zeit reden zu können, auch wenn sie vielleicht nicht sehr viel davon erzählen – für ihre Generation dann aber doch viel.“

Erschütternd sind die Briefe von Salomons Großmutter an ihre Tochter Helina in New York. Sie hat die Tochter im Unklaren darüber gelassen, dass sie mittlerweile zwangsweise in einem „Judenhaus“ untergebracht ist. Salomon liest im Film den letzten Brief ihrer Großmutter, sie schrieb ihn vor ihrer Deportation in ein Vernichtungslager: „Ruth und ich verreisen, Adresse noch unbekannt. Vergesst uns nicht. Auf Wiedersehen, Mutter.“

Termin: Freitag, 17.30 Uhr, Kino Achteinhalb. Danach ein Gespräch mit der Regisseurin Barbara Trottnow; Jonas Trottnow (Bildgestaltung) ist ebenfalls dabei. Der Eintritt zu der Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung ist frei.
„Visiting the Past“ auf DVD: www.bt-medienproduktion.de

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