Kostenloser Eintritt am 1. Mai Mehr, größer und an neuem Spielort – was es bei der neuen Urban Art in der Völklinger Hütte zu bestaunen gibt

Völklingen · Die sechste Ausgabe der Völklinger „Urban Art“ überrascht mit mancher Neuerung. Am 1. Mai ist der erste Besuchstag – kostenlos. Man muss viel Zeit einplanen. Warum sollte man unbedingt hin?

 Urban-Art-Kurator Frank Krämer (links) und Generaldirektor Ralf Beil auf dem Dach der Möllerhalle. Die gesamte Fläche wurde von Roadsworth gestaltet: „Defund The War Machine“ heißt die Arbeit.

Urban-Art-Kurator Frank Krämer (links) und Generaldirektor Ralf Beil auf dem Dach der Möllerhalle. Die gesamte Fläche wurde von Roadsworth gestaltet: „Defund The War Machine“ heißt die Arbeit.

Foto: Oliver Dietze

Packt die Wanderschuhe ein! Denn die „Urban Art“ ist nicht länger auf ihren ursprünglichen Spielort, die „Galerie“ der Möllerhalle, konzentriert, deren Nischen mit Kunst bespielt wurden. Nein, die sechste Ausgabe hat sich guerillahaft neue Ecken, Wände und Gebäude des Völklinger Weltkulturerbes erobert. Das hat einen ziemlich langen Rundgang zur Folge, quer durchs Gelände, und dann wollen auch noch Kunstwerke in der Innenstadt besucht werden. Doch das, was da bei der aktuellen Ausgabe passiert, die Ausdehnung in den ungeschönten öffentlichen Raum, die vielen In-Situ-Arbeiten, die am Ort und für den Ort entstehen, das ist Straßenkunst „at its best“, weil alle musealen Echos abgeschaltet sind. Authentischer geht‘s nicht.

Bilder: Ein Rundgang über die Urban Art Biennale in Völklingen
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Ein Rundgang über die Urban Art Biennale 2022 in Völklingen

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Foto: Michael Kipp

Immer schon war Streetart-Kunst was für Menschen mit Bewegungsdrang und Entdeckergeist. Und nichts für Warmduscher, die sich bei Vernissagen mit ihrem Cremantglas gerne in tiefe Loungesessel kuscheln. Graffiti und Straßenkunst sind nun mal Kinder der Subkultur, geboren in ungemütlichen Mega-Cities. Mittlerweile haben sie den sozialen Aufstieg in schicke Galerien geschafft, wurden „cool“ und Mainstream. Genau diese Entwicklung hin zu mehr Angepasstheit spiegelte seit 2011 auch die alle zwei Jahre ausgerichtete „Urban Art“. Und jetzt zeigt sie, dass sich die jüngste Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts neu ausrichtet: angriffslustiger, gesellschaftskritischer, zugleich anspruchsvoller in der Vereinnahmung von Raum und Aufmerksamkeit wird. Weil es noch nie um die Aufhübschung des Stadtraumes ging, und Klimakrise, „Zeitenwende“ und Krieg nach politischen Kommentaren zu rufen scheinen.

Völklingen: So is das Arbeiter-Porträt von Hendrik Beikirch entstanden
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Wie entstand das riesige Arbeiter-Porträt im Umfeld der Völklinger Hütte?

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Foto: BeckerBredel

Wann je hätte man bei einer Urban Art jemals so viele ausladende, gigantische Kunstwerke gesehen wie dieses Mal? Ein imposantes leer stehendes Bankgebäude in der Innenstadt wird bespielt (Katre), auf einer 600 Quadratmeter großen Saarstahl-Fabrikhallenfassade prangt ein wunderbares Arbeiterporträt (Hendrik Beikirch), und Reros Graffito „Hell-o-World“ hat 78 Meter Länge, um laut Generaldirektor Ralf Beil Denkanstöße zu geben, ob wir die Welt zur Hölle machen, wenn wir zu viele Migranten willkommen heißen oder ob für letztere die Welt bereits höllisch ist. Beim flüchtigen Betrachten enthüllt sich so viel Tiefsinn freilich nicht.

Erstmals wird auch die Erzhalle als Standort integriert – und ein Besuch dort, bei Maxime Drouet, ein Muss. Der hat die Fenster eines Zuges mit großblasigen Aquarell-Farbverläufen besprüht. Man sieht sie alle, in Originalgröße, aufgereiht wie am Zug, und sie leuchten von innen, als sei‘s sakrale Glaskunst.

Das spektakulärste Beispiel für den Hang zur Monumentalität ist freilich der über 100 Meter lange Schriftzug auf dem Dach der Möllerhalle von Roadsworth. Nur aus der Vogelperspektive kann man ihn – wenn überhaupt – lesen, also muss man über die Hütte fliegen oder – eine bessere Idee – nur die Gichtbühne hoch. „Defund the war machine“ lautet der Appell: Finanziert nicht länger die Kriegsmaschine! Zweifelsohne ist das ein aktueller Kommentar zum Ukraine-Krieg, kritisch sowohl in Richtung Russland wie auch in Richtung EU, die ja das ukrainische Militär unterstützt. Ein ironischer Finger weist aber auch auf die Hütte zurück, die dem NS-Regime Waffen lieferte. Soll die Landesregierung diese ehemalige „war machine“ stoppen?

 Der Graphic-Novel-Stil beeinflusst viele Straßen-Künstler.  Hier ein Werk von   Marius Waras  (M-City).

Der Graphic-Novel-Stil beeinflusst viele Straßen-Künstler. Hier ein Werk von Marius Waras (M-City).

Foto: Oliver Dietze

„Stärker als bisher hinterfragen die Künstler die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse“, stellt Urban-Art-Kurator Frank Krämer fest. Doch er hat, um das gesamte aktuelle Panorama der Szene zu zeigen, auch ganz andere Positionen aufgenommen. Klassisch Abstraktes (Maya Hayuk, Filippo Minelli), Schablonen-Kunst (Olivier Hölzl) oder Künstler, die im Graphic-Novel-Stil arbeiten und dabei satirische Ausflüge zu Hieronymus Bosch wagen (Drasko Boljevic) oder, wie Marius Waras (M-City), düstere Fantasy-Alptraum-Szenerien in Schwarz-Weiß kreieren, in denen die dampfende Industrie-Maschine mit dem kollabierenden Stadt-Moloch verschmilzt. Das hat eine große Kraft.

Auffällig ist, dass Krämer in der Möllerhalle viel mehr Luft lässt, was die serielle, passageartige Architektur des früheren Rohstofflagers besser lesbar macht. Dadurch verliert sie jedoch ihre Stellung als Gravitationspunkt für Besucher. Wer es gerne geballt hat, wird mit dem neuen parcours nicht glücklich sein.

Was fällt noch ins Auge? Der Hang zu Installationen und Gesamtraum-Bespielungen – es ist allgemein ein Trend der aktuellen Kunstszene. „Rocco und seine Brüder“ veranstalten in einer eigenen Nische eine Farborgie. Holzständer, die Polizisten-Schutzwesten tragen, werden mit Farbe besprüht – angegriffen und transformiert. Besonders rotzig-aggressiv tritt Wasted Rita mit einer monografischen Ecke in Erscheinung – gegen die weißen alten Männer und überhaupt. Ihre Waffe: drastische Sprüche auf Plakaten. „Why you fuck me if you can fuck my life?“ liest man. Künstlerisch schwach, aber als Neo-Reminiszenz an die rebellischen Ursprünge der Street Art ein wichtiger Beitrag.

Nahezu jede Position – insgesamt sind es etwa 60 – lohnt der Entdeckung. Doch bevor in der Fülle ein eher leises, filigranes, fast schon zeichnerisches Werk von Jaune verloren geht, sei es hier explizit erwähnt. Es spricht eine für Streetart überraschend charmante Sprache, befindet sich außerhalb des Weltkulturerbes (Außenmauer an der Bushaltestelle, Eingang zur Unterführung), ist mithin „echte“ Street Art. „Kunstfabrik“ steht über der comicartigen Szenerie, in der unzählige „Streetworker“ wie Wichtelmännchen auftauchen. Sie machen gerade Pause, lümmeln rum, rauchen, daddeln am Handy. Jeder ist ein Individuum. Zu putzig? Poetische Erinnerungskultur, Labsaal für die Seele.

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