Grenzüberschreitendes Theater in Saarbücken Party – bis der Bus brennt

Saarbrücken · Die Uraufführung des grenzüberschreitenden Stücks „Linie 21/La pastèque“ in einem früheren Saarbrücker Motorradladen konfrontiert uns mit den Zumutugen der Corona-Zeit genauso wie mit dem, was wir anderen zumuten und wie wir mit Fremden umgehen. Ein großartiges Stück Theater.

 Eine Bustour zu den eigenen Vorurteilen. Eine Szene aus der neuen Produktion „Linie 21/La Pastèque“ mit Ali Berber, Richard Mahoungou (liegend) und Walter Schmuck (Mitte), die jetzt in Saarbrücken Uraufführung feierte.

Eine Bustour zu den eigenen Vorurteilen. Eine Szene aus der neuen Produktion „Linie 21/La Pastèque“ mit Ali Berber, Richard Mahoungou (liegend) und Walter Schmuck (Mitte), die jetzt in Saarbrücken Uraufführung feierte.

Foto: Kerstin Kraemer/KERSTIN KRAEMER

Bis hierhin lief es ja noch ganz gut, denkt die Wassermelone, während sie zu Boden fällt. So beginnt das in mehrerlei Hinsicht grenzüberschreitende Stück „Linie 21/La pastèque“, das am Wochenende Uraufführung feierte.

Und man ahnt schon, dass die Sache nicht gut ausgeht. Am Ende liegt die Melone zerschmettert am Boden – ein Sinnbild des geplatzten Traums vom friedlichen globalen Miteinander? Bis dahin geht sie auf eine weite, turbulente, ja sogar burleske Reise durch Europa, unternommen von freien Theatermachern aus dem Saarland, Rheinland-Pfalz, Luxemburg und Grand-Est. Tatsächlich erzählen sie auch von Menschen der Großregion, die in einem Fernbus aufeinandertreffen – den Text, basierend auf realen Beobachtungen, schrieb David Röttele (auch Co-Regie und Sounddesign), die Dramaturgie besorgte Mirka Borchardt. Ein intensives Road-Drama sozusagen, ein Episoden- und Stationentheater, bei dem ein hervorragendes vierköpfiges Schauspielensemble in wechselnde Rollen schlüpft: Einige Personen tauchen wiederholt auf, einige kennen sich bereits, andere lernen einander notgedrungen kennen – manche Begegnungen sind bereichernd, viele aber laufen relativ rasch aus dem Ruder. Denn hier kollidieren nicht nur unterschiedliche Temperamente, sondern auch Nationalitäten, Kulturen und Sprachen. Und jeder bringt seine eigenen Empfindlichkeiten, Vorurteile und Ressentiments mit, was das Publikum wiederum in die Bredouille bringt, sich zu identifizieren oder zu distanzieren, Partei zu ergreifen oder zu verurteilen – „immersives Theater“ nennt die Gruppe das.

Als Saarbrücker Spielstätte dient ein ehemaliger Motorradladen in der Vorstadtstraße 37: ein zentral gelegener Leerstand mit dezentem Industriecharme, der alleine schon aufgrund seiner Größe viele Möglichkeiten eröffnet und prädestiniert scheint, die chronische Raumnot der hiesigen freien Szene zu beheben. Auf die nackten Wände projizieren Beamer zwischen den wechselnden Szenen die Umrisse der Passagiere (Visualisierungen: Krischan Kriesten); davon umzingelt sitzt das Publikum auf zwei einander gegenüberliegenden Seiten. Dazwischen befindet sich eine große Freifläche, auf der eine doppelte Sitzreihe, wie man sie aus Bahnhofswartehallen kennt, frei rotieren kann – der Bus als symbolträchtiges Gesellschafts-Karussell (Bühnenbild: Jasmin Kaege). Dessen Schrauben zieht Regisseurin Milena Mönch derart an, dass es mit Absicht oft überdreht: Nein, kein Betroffenheitstheater, hier geht’s meist so rasant und aberwitzig zu, dass einem das Lachen umso abrupter im Halse stecken bleibt. Die Reisenden kämpfen mit den üblichen Anschluss-Problemen, Corona-bedingte Zumutungen tun ein Übriges: Der Virus wirkt wie ein nervenzersengendes Brennglas, das die Gruppendynamik anheizt und zugleich wie eine Lupe Sollbruchstellen und unterschwellige Diskriminierung sichtbar macht.

Beispiel: Wir erleben weibliches Territorialverhalten, weil ein reservierter Sitzplatz von einem anderen Passagier eingenommen wird. Dass die Revierverteidigerin (Elena Spautz) daraufhin vom Verdrängten (Richard Mahoungou) übelst beleidigt wird, ruft einen galanten Verteidiger (Walter Schmuck) auf den Plan. Der heroische Akt der Zivilcourage endet in einer Prügelei, in die der leidgeprüfte Busfahrer (Ali Berber) eingreifen muss.

Hätte die Frau vielleicht anders reagiert, wenn es kein Schwarzer gewesen wäre, der unberechtigt ihren Platz eingenommen hat? Dünnhäutige treffen auf Choleriker, genervte Väter auf arrogante Businesstypen, heillos übermüdete Reisende auf schmerzbefreite Ignoranten. Mal ist Party, bis der Bus brennt, weil jemand verbotenerweise geraucht hat; dann wieder kommt es zu einer Spontanverliebung, die Unzucht im öffentlichen Raum nach sich zieht. Wie gehen wir mit Grenzüberschreitungen um? Gucken wir zu, schreiten wir ein?

Gespielt wird auf deutsch, französisch und englisch; die Protagonisten wechseln die Sprache, je nachdem, ob sie miteinander sprechen oder sich ans Publikum wenden, um ihre eigene Befindlichkeit zu verdeutlichen – eine weitere Provokation und „Zumutung“ für die Zuschauer, weil sich Sprachbarrieren und Verständigungsprobleme damit unmittelbar übertragen. Die Melone platzt schlussendlich, weil eine Ausweiskontrolle, die ohnehin schon inquisitorische Dringlichkeit hat, in Racial Profiling eskaliert. Damit kommt der eigene Umgang mit dem Fremden endgültig auf den Prüfstand. Sehenswert.

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