Austellung 1986“ in der Völklinger Hütte Als die Zukunft noch krassrosa war

Völklingen · Das Völklinger Weltkulturerbe zeigt in einer Ausstellung, wie wir das wurden, was wir sind: Freizeit- und Konsum-Freaks. Die Fotografien von Michael Kerstgens beleuchten das Jahr 1986.

 Fotograf Michael Kerstgens in der Möllerhalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte vor einem seiner Werke der Ausstellung „1986. Zurück in die Gegenwart“.

Fotograf Michael Kerstgens in der Möllerhalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte vor einem seiner Werke der Ausstellung „1986. Zurück in die Gegenwart“.

Foto: Oliver Dietze

Am liebsten war Michael Kerstgens (60) unter den Leuten, war einer von denen, die er auf seine Bilder brachte. „Partizipative Fotografie“ nennt der Darmstädter Professor für Fotografie das. Er ist einer, der die Kamera wie einen unbemerkten Seismografen mitbringt ins soziale Leben. 1984/85 lebte Kerstgens sechs Wochen lang im Haushalt eines Bergarbeiters; der große Streik, das  war das Erste, was der junge Kerstgens mit professionellem Anspruch fotografierte, damals in Großbritannien, wo er selbst bis zu seinem sechsten Lebensjahr in der Nähe von Zechen zuhause war.

Den Presserundgang in der Völklinger Möllerhalle zu seiner Ausstellung „1986. Zurück in die Gegenwart“  nahm er zum Anlass, an den gastfreundlichen Bergarbeiter von einst zu erinnern. Der Kontakt riss nie: „Es geht ihm richtig Scheiße, er hat seit 35 Jahren nicht mehr gearbeitet.“ Zweifelsohne passt ein Mann wie Kerstgens in das Konzept des neuen Weltkulturerbe-Chefs Ralf Beil, der sich vorgenommen hat, das Erbe der Hüttenarbeiter stärker als bisher in Wert zu setzen. 

Der Fotograf  lebt heute im Ruhrgebiet und weiß, dass sich ein Eisen-Abstich anfühlt, „als würde gleich der Film in Flammen aufgehen“, wie er sagt. Kerstgens erlebte den Niedergang der Hütten- und Bergwerke in Rheinhausen und die feindliche Übernahme der Hoesch-Stahlwerke durch die Krupp AG mit.  Kurz, dieser Künstler  wäre ein idealer Kandidat, um im Völklinger Weltkulturerbe ein optisches Requiem für alle Zurückgelassenen des Industriezeitalters aufzuführen.  Doch der Weltkulturerbe-Chef Beil wich dem Naheliegenden aus. Statt Schweiß und Tränen und schwarz verschmierter Gesichter sieht man auf den rund 40 Großformaten in der offenen Möllerhalle viel Pink.  Es war in den 80ern die Trendfarbe einer neuen Ära, über der in fetten Buchstaben „FUN“ stand. Dieter Bohlen hüpfte im krassrosa Joggingdress auf die Bühne, Jane Fonda brachte den Mädels Aerobic bei, Don Johnson machte Ray-Ban-Sonnenbrillen in der „Miami Vice“-Kultserie zum Allwetter-Accessoire und erhob T-Shirts zum Designer-Anzug zum Must-Have.

Diese Promi-Ikonen-Bilder sehen wir nicht in der Völklinger Ausstellung, aber wir erinnern uns und spüren es, das Vibrieren eines damals gänzlich neuen Freizeit- und Konsum-Zeitgeistes, der sich heute in einer kritisch beäugten letzten Nach-Blüte befindet. Denn 1986, das war auch das Jahr der Tschernobyl-Katastrophe und des Challenger-Unglücks – erstmals zerbarst der naive Fortschrittsglauben in apokalyptischen Bildern. Das Signal: Nicht alles ist machbar und beherrschbar. Parallelen zu heute liegen auf der Hand, wenn man auf Kerstgens‘ Fotos menschenleere Straßen und Spielplätze nach dem Reaktorunglück sieht.

1986 ging Kerstgens als Stipendiat im Auftrag einer Campingwagen-Firma (!) auf die Suche nach der neuen, typisch deutschen Spaßgesellschaft, auf Fußballplätzen, in Freibädern, in Einkaufsmeilen. Erstmals näherte er sich seinem Sujet beobachtend-dokumentarisch. Und was Kulturwissenschaftler  als Zeit-Trend der 80er definieren, etwa das Verschmelzen von Sport- und Unterhaltungskultur, man findet es bei Kerstgens im Kleinen, im Detail: Golfplatz-Jungs tragen das Boss-Marken-Label auf ihren Überziehern – Pioniere heutiger Bekenner-Mode. Der nicht mehr ganz junge Radsport-Besitzer trägt neben Goldkettchen auch die damals durch Boris Becker geadelten weißen Tennissocken in braunen Sandalen.  Und wenn ein Kunstsammler 60. Geburtstag feiert, blitzt auch mal eine Alditüte zwischen den Gästen durch. Die konkreten Orte und Geschichten hinter den  vermeintlich banalen Schnappschuss-Momenten erfährt man nicht, auch nicht im – ausgesprochen empfehlenswerten – Katalogbuch. Doch genau dies macht den Reiz aus. Individuelles Leben verdichtet sich zu einem kollektiven Echoraum: Es war einmal, so war’s.  Überraschenderweise funktionieren Kerstgens’ Fotos als Blow-Up (2,40 auf 1,90 Meter) weit besser als in der Katalog-Wiedergabe. Die riesigen Abzüge ermöglichen tatsächlich so etwas wie eine menschliche Begegnung. Verstärkt wird dieses Erlebnis in der Möllerhalle durch – sparsam – eingesetzte Zusatzelemente: Man hört den Sound der 80er, etwa  Falco’s „Amadeus“-Song, alte Fernsehgeräte spielen „Tagesschau“-Beiträge aus dem Jahr 1986 ab, Cover des Magazins „Tempo“ oder Titelseiten der „Bild“-Zeitung transportieren markante Schlagzeilen. Und man ist sehr geneigt, einem Kerstgens-Satz zuzustimmen: „Fotografie ist wie guter Wein. Der historische Kontext macht die Qualität aus.“

Aber warum sprang der  Weltkulturerbe-Chef auf Kerstgens’ Fotografie an? Wo ist der Bezug? Ralf Beil erklärt es so: Die Völklinger Hütte stehe für den Wandel, der in den 80er eintrat: Die Arbeit verlor ihre identitätsprägende Kraft, machte Konsum und Unterhaltung Platz. Nicht zuletzt war 1986 auch das Jahr, in dem die Hütte still gelegt wurde. - Eine sehr schmale Brücke zum Kerstgens-Projekt. Man braucht sie nicht.  

 Auch an der Saar hätte diese „Radtour 1986“ wohl genau so stattfinden können. 

Auch an der Saar hätte diese „Radtour 1986“ wohl genau so stattfinden können. 

Foto: Michael Kerstgens/Hartmann Books/Weltkulturerbe Völklinger Hütte/Michael Kerstgens/Hartmann Books

„1986. Zurück in die Gegenwart. Fotografien von Michael Kerstgens“, 25. April bis 28. November 2021, Möllerhalle, täglich 10 bis 19 Uhr. Die Tickets müssen online gebucht werden, Einlass nur mit einem tagesaktuellen Test. Auf dem Gelände gilt Maskenpflicht. Es war bis Redaktionsschluss unklar, ob die Schau wegen der neuen Gesetzeslage überhaupt eröffnet werden kann.

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