Vorträge Was tun wir jetzt mit der Postdemokratie?

Saarbrücken · Neoliberalismus-Kritiker Colin Crouch stellte in Saarbrücken seine Thesen vor. Sein Vortrag lieferte keine neuen Erkenntnisse.

Nach knapp 90 Minuten ist Schluss. Während sich das Publikum in alle Winde zerstreut, steht Colin Crouch (75) immer noch hinterm Rednerpult – ins Gespräch mit einem Gast vertieft. In seinem gut besuchten Vortrag hat der emeritierte Professor für Politik und Soziologie (u.a. in Oxford), den „Stiftung Demokratie Saar“-Geschäftsführer Bernd Rauls als einen „der wichtigsten intellektuellen Vertreter der Sozialdemokratie“ begrüßte, seine zentralen Thesen vorgestellt – „dankenswerterweise in Deutsch“ (Rauls), das Crouch mit schweizerisch anmutenden Einsprengseln spricht.

International bekannt wurde Crouch mit seiner 2004 vorgelegten Studie „Post-democracy“, die er als Reihe fortführte – deren dritter Teil erschien 2015 auf Deutsch als „Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht“. Seitdem hat sich viel getan – Stichworte „Post Truth“, „Alternative Facts“ und „Fake News“. Und der sympathische Professor bekennt, fast schon entschuldigend – „Ich habe das Werk zu früh geschrieben“ –, dass diese Aspekte in seinem dritten Teil von Postdemokratie leider gänzlich fehlen. Doch in seinem frei gehaltenen Vortrag kommen sie doch irgendwie zum Tragen, wenn er auf Trump und die Anti-Impf-Kampagne zu sprechen kommt. „Es gibt immer ein Problem des Wissens“, postuliert er eingangs kryptisch. Die Gretchenfrage: „Ist das Wissen abhängig oder unabhängig?“ Zumindest ist es für Crouch grundsätzlich käuflich. Seitdem sich beim Bildungsbürgertum die Erkenntnis über das im Zweifel (von wem auch immer) korrumpierte Wissen durchgesetzt habe, sei das Vertrauen nachhaltig erschüttert – obwohl das System (der freie Markt) eben auf Vertrauen basiere und vermeintlich unabhängige Experten Vertrauen suggerieren, so Crouchs wenig überraschende Analyse des neoliberalen Marktradikalismus.

Artig benennt Crouch einige der „knowledge corrupters“ (so der englische Titel von „Die bezifferte Welt“), die etwa Abgastests mit ihrer Software manipulieren, mit Geldern die universitäre Forschung lenken oder Statistiken frisieren, um daraus verbindliche Kennziffern generieren, an denen man sich zu orientieren hat, wie es uns die Geschichte lehrte. Der zahme Crouch kredenzt mit britischem Understatement „wenig Erhellendes“, wie ein Besucher etwas enttäuscht bemerkt, nachdem ein anderer, offensichtlich betrunkener Gast, mit seltsamen verbalen Interventionen („alles christlich gewollt, ich schäme mich für meine Mitmenschen“) der beredten Beschaulichkeit einen Moment der unvorhersehbaren Unruhe abtrotzt, bevor er ganz freiwillig das Weite sucht.

Auch in der anschließenden Fragerunde steuert Crouch nichts nennenswert Neues bei. Mit diplomatischer Finesse weicht er den abgefeuerten Redesalven der Fragenden aus, die sich entweder in ihrem klagend-alarmistischen Gestus („Es gibt keine rote Linie mehr!“) selbst bestätigt wissen wollen, ihm völlig uneigennützig und zuckersüß die Mitarbeit in einer PR-Agentur anbieten oder Crouch mit monolithischen Thesen über den Stellenwert und die Folgen der Lüge in der Menschheitsgeschichte aus der Reserve locken wollen.Was keinem der Fragesteller auch nur im Ansatz gelingt. „Ja, Bildung hilft“, versichert der gute Professor, während er sich durchs glattrasierte Gesicht streicht und so ganz symptomatisch die liebenswürdigen einvernehmlichen Übereinkünfte des Abends am Köcheln hält.

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