Ausstellung im Mudam Zeit mit unterschiedlichen Sinnen erfahren

Luxemburg · Das Mudam in Luxemburg zeigt in „Le temps coudé“ (Die gekrümmte Zeit) Arbeiten des albanischen Künstlers Anri Sala.

  „The Present Moment“: Die Installation von Anri Sala mit zwei Bildschirmen zeigt Musiker, die die „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg spielen.

„The Present Moment“: Die Installation von Anri Sala mit zwei Bildschirmen zeigt Musiker, die die „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg spielen.

Foto: Mudam/Rémi Villaggi-Metz

Schnecke und Musiker haben es nicht leicht. Während das Kriechtier mühsam den Bogen emporkriechen muss, spielt der Bratschist Gérard Caussé Strawinskys „Elegie für Viola Solo“ (1944) und hat die Schnecke dabei stets im Blick. Aus dem ungewöhnlichen Dialog entsteht ein neues Zeitmaß, dass eine Neuinterpretation des Stückes aufnötigt. Während die normale Dauer des Stückes etwa fünf Minuten beträgt, benötigt das Tier rund acht Minuten für den Bogen. Der Musiker, bemüht, der Schnecke ausreichend Zeit für ihre gemächliche Reise zu geben, muss langsamer werden, um die Zeit der Partitur zu strecken. „If and Only If“ aus dem Jahr 2018 ist eine Videoarbeit des albanisch-stämmigen Künstlers Anri Sala. Der darf derzeit mit acht Arbeiten das Obergeschoss, die Haupthalle und den Pavillon des Musée d‘ Art Moderne (Mudam) in Luxemburg bespielen. Die Ausstellung „Le temps coudé“ („Die gekrümmte Zeit“) versammelt Installationen, Filme und Zeichnungen Salas aus den letzten fünf Jahren.

Zentrale Stellung im Werk des 1974 in Tirana geborenen Künstlers spielen Klänge und Musik, die von Klassik über Free Jazz bis zu Pop und neuer Musik reichen. Mit den sinnlich erfahrbaren Installationen spielt Sala mit unserer Vorstellung und Wahrnehmung von Zeit. Immer wieder führt uns der Künstler die Zeit anschaulich vor Augen und macht sie für uns neu erfahrbar.

Wunderbar die Präsentation der Arbeit „The Present Moment“ in einem der beiden großen Säle im Obergeschoss. Im ganzen Haus hört man ein Streichersextett „Verklärte Nacht“ aus dem Jahr 1899 von Arnold Schönberg spielen. Doch das Lied klingt seltsam fremd. Anri Sala interpretiert es in der von Schönberg erst 1923 erfundenen Zwölftontechnik neu. Acht Lautsprecher hängen in einem Bogen im Saal. Zwei großformatige Bildschirme zeigen die Musiker in Nahaufnahmen mit Details der Körper. Sehr subtil greift der Künstler in die räumliche Struktur ein. Bewegt man sich durch den Saal, bekommt man eine völlig neue Perspektive auf die Musik und den Raum. Nebenbei untersucht Sala auch hier die zeitliche Dimension von Musik. Geht man durch den Saal, bemerkt man, wie sich die Musik fortbewegt.

Zeit spielt auch eine wesentliche Rolle bei den gezeigten zeichnerischen Werken. „Manifestations of Motions and Affect“ aus dem Jahr 2014 stellt verschiedene Möglichkeiten dar, wie in der westlichen Musik das Zeitmaß abgebildet wird. Die in den Partituren verzeichneten Tempoangaben geben Geschwindigkeiten, Ausdruck oder Vortragsweise an und stammen von unterschiedlichen Komponisten. Aus jeweils einer Partitur hat Sala die Angaben auf nur einer Seite verdichtet und die Noten entfernt. Die Angaben hat er auf den Notenlinien verteilt und mit wischenden Formen wolkig umkreist. Sie ersetzen so die Noten und sind selbst zu musikalischen Angaben geworden.

Die Ausstellung ist perfekt inszeniert. Sala allerdings ist kein Leichtgewicht, wenn die Arbeiten auch ein ästhetischer Genuss sind. Um das Werk zu verstehen, muss man tief in die Welt von Sala eintauchen und sich auf die Arbeiten einlassen. Dann aber wird man durchaus glücklich mit der Ausstellung. Gerade für musikbegeisterte Menschen dürfte „Le Temps coudé“ ein Genuss sein.

 Selbstporträt von David Wojnarowicz (1954–1992). Seine Werke sind jetzt auch im Mudam zu sehen.

Selbstporträt von David Wojnarowicz (1954–1992). Seine Werke sind jetzt auch im Mudam zu sehen.

Foto: Wojnarowicz/Mudam

Vor rund zwei Wochen eröffnete das Mudam außerdem die Ausstellung „History Keeps Me Awake at Night“ mit einem Überblick über das Werk des Künstlers, Schriftstellers und Aktivisten David Wojnarowicz (1954–1992). Es ist die erste retrospektive Ausstellung seines Werks in Europa. Der New Yorker entwickelte ab den 1970er Jahren ein vielfältiges Werk aus Fotografie, Malerei, Musik, Film und Skulptur. Als HIV-Positiver wurde er zu einem leidenschaftlichen Aids-Aktivisten, der selbst im jungen Alter von 37 Jahren an den Folgen seiner Infektion starb. Sein Werk dokumentiert und beleuchtet die Krise um Aids und die Kulturkämpfe der späten 1980er und frühen 1990er Jahre in den Vereinigten Staaten. Wojnarowicz‘ künstlerisches Werk dreht sich um zeitlose Themen wie Sexualität, Spiritualität, Liebe und Verlust, die er in radikaler Offenheit behandelt.

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