Ballett-Premiere am Saarländischen Staatstheater Frisch, mitreißend, originell: Der Tanzabend „Aufbrüche“

Saarbrücken · Marioenrico D’Angelo und Moritz Ostruschnjak standen beide als Tänzer auf der Bühne, bevor sie ins Choreografen-Fach gewechselt sind. In der Alten Feuerwache des Staatstheaters konnte sich das begeisterte Publikum davon überzeugen, dass die „Aufbrüche“ der beiden gelungen sind.

 Moritz Ostruschnjaks Choreografie "Gloom", hier mit Nobel Lakaev und Edoardo Cino, spielt auch mit unserer Wahrnehmung.

Moritz Ostruschnjaks Choreografie "Gloom", hier mit Nobel Lakaev und Edoardo Cino, spielt auch mit unserer Wahrnehmung.

Foto: Stöß/Bettina Stoess

Man wünscht diesem neuen Ballettabend des Staatstheaters viele Zuschauer, denn er präsentiert zwei wirklich frische, mitreißende Stücke zweier ehemaliger Tänzer, die ins Choreografenfach gewechselt sind – daher der Obertitel des Abends „Aufbrüche“.

Ganz frisch sind „Grace“ und „Gloom“ auch insofern, als sie in Saarbrücken als Auftragswerke entstanden und am Samstag nicht bloß ihre Premiere, sondern ihre Uraufführung erlebten. Für Marioenrico D’Angelo, dessen „Grace“ den Anfang machte, war es fast ein Heimspiel, hatte der Italiener doch bis 2018 fünf Jahre hier fest im Staatsballett getanzt.

Fünf Frauen und drei Männer schickt D’Angelo auf die Bühne, alles Solisten, Egomanen, durchaus mit Komik. Da ist der Typ, der den Kopf immer von links nach rechts wendet, weil er nur Augen für seine tollen Oberarm-Muskeln hat, die Tänzerin, die sich immer in der Mitte aufbaut, um loszutanzen.

Auch wenn diese jungen Leute, die in den derzeit so angesagten Braun-Gelb-Rot-Tönen der 70er-/80er Jahre gekleidet sind, versuchen, einander näher zu kommen, geht das nicht sehr weit. Da umfasst der Mann die Frau beim Paartanz nur mit Abstand, rempeln sich zwei Frauen nur kurz an den Armen, und wenn alle über die Bühne toben, sind sie keine Gruppe, sondern nur ein loser, ungeordneter Haufen.

Während die Assoziationen beim Zuschauen noch schwanken zwischen Influencer-Egomanie und Hygieneabstands-Konditionierung, geht „Grace“ in eine überraschend andere Richtung. Eine Frau, die so schwach auf den Beinen, so beweglich wie eine Gummipuppe ist, bewirkt beim Bizeps-Mann die völlige Wandlung. Es folgt ein Pas-de-Deux zum Dahinschmelzen, in dem er ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Zuwendung zeigt, bevor er sie für immer lassen muss.

Benannt hat D’Angelo seine Choreografie nach dem legendären Album „Grace“ des früh verstorbenen Sängers und Gitarristen Jeff Buckley, von dem er sieben Titel spielen lässt. Während Buckleys (Cover-)Songs voll von Melancholie, Abschied und Trauer um Liebe sind, schafft es D’Angelo, sehr viel unterschiedlichere und auch heitere Stimmungen hervorzurufen. Cohens „Hallelujah“, auch ein Track auf „Grace“, wird hier von Tänzern gesungen und auf dem Klavier geklimpert und bildet die musikalische Brücke zum zweiten Teil.

Dieweil man sich schon fragt, was jetzt noch kommen könne, schildert D’Angelo tänzerisch, wie aus dem Haufen eine aufeinander bezogene glückliche Gruppe wird. Das geht leider nicht ganz klischeefrei. Doch insgesamt macht das sein Stück mit einem herrlich unverkrampften, raumgreifenden und durchlässigen Tanz und mit interessanter Bewegungssprache wieder wett.

Um die Gruppe geht es auch in „Gloom“ des Münchners Moritz Ostruschnjak, der aus der Sprayer-Szene über den Breakdance zum zeitgenössischen Tanz fand und seit 2013 choreografiert. Ostruschnjak, der sich für seine Stücke gern in der Internetinformationsflut bedient, bombardiert das Publikum auch in Saarbrücken mit einer Vielzahl von Puzzleteilen, Wirklichkeitsfetzen, Codes, die uns erst gefühlsmäßig erreichen und hin und her reißen, bevor wir sie entschlüsseln und Zusammenhänge (re-)konstruieren.

Herrlich unkonventionell auch, wie er Szenen baut und dabei mit den Elementen Tanz, Projektion und Musik jongliert. Der Münchner steckt seine sechs Tänzer und drei Tänzerinnen in lustige Sporttrikots, die etwas von Comicfiguren haben. Hier ist die Gruppe schon gleich zu Anfang strotzend vor Energie, powert tänzerisch zwischen Monty Pythons skurrilen Gangarten, indiviuellen Tanzsoli und immer wieder eingestreuten Bewegungsmustern, die man als Déjà-Vu von Sportarten wie Bogenschießen, Bodenturnen, Kampfsport oder Dressurreiten identifiziert.

Leistungsschau, Schaulaufen, strahlende Laune, die einem immer aufgesetzer vorkommt, Einzelne, die in Edvard Munchs stummem Schrei erstarren – was da so rasant vor unseren Augen abläuft, möchten wir bewundern und doch schleicht sich Unbehagen ein.

Auch optisch, mit Projektionen, und akustisch, mit der Musik, setzt Ostruschnjak Zeichen, deren Ästhetik sich als hintergründig entpuppt. Was wir anfangs als reizvolle Grafiken wahrnehmen sind Kondensationsstreifen von Raketen, bunte Kaleidoskopmuster enthüllen sich als zum Ornament gedrillte Masse bei asiatischen Olympiaeröffnungszeremonien. John Adams süffige Sinfonie-Klänge sind aus dessen Oper Nixon in China.

Ostruschnjak legt zwar Spuren, schickt uns jedoch nicht auf eine Schnitzeljagd, bei der ein Lösungswort herauskommen soll. Ein Stück, das fordert, aber auch vergnügt. Insgesamt ein starker Abend mit einem bestens disponierten Staatsballett. Das schien auch das Publikum so zu sehen.

Nächste Vorstellungen von „Aufbrüche“ am Dienstag, 17., Samstag, 21., und Mittttwoch, 25. Mai, jeweils 19.30 Uhr, sowie am Sonntag, 29. Mai, um 18 Uhr. Spielort ist die Alte Feuerwache. Karten: (0681) 3092-486 oder www.staatstheater.saarland

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